Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Zur Sozialpsychologie der Friedensunfähigkeit

Erschienen unter dem Titel "Welche Gesellschaften können noch Friedfertigkeit stiften?" in der Frankfurter Rundschau am 23.10.1999

- Welche Gesellschaften können noch Friedfertigkeit stiften? Vom Ersten Weltkrieg bis zum Nato-Bombardement in Kosovo / Anmerkungen aus sozialpsychologischer Sicht von Gerhard Vinnai -

Können eigentlich reiche Gesellschaften, die Armut und Arbeitslosigkeit bei sich selbst nicht überwinden können, sie anderswo beseitigen und damit mehr Friedfertigkeit stiften? Dieser Frage, die sich nach den Erfahrungen mit dem Nato-Krieg in Kosovo aufdrängt, geht im folgenden Beitrag Gerhard Vinnai nach. Der Bremer Professor für analytische Sozialpsychologie hielt seinen Vortrag auf einer Veranstaltung des Instituts für Kulturforschung und Bildung an der Universität Bremen. -

I

Die Darstellungen und Interpretationen des Krieges in Jugoslawien erweckten häufig den Eindruck, daß dort nicht ein aktueller Krieg, sondern eine Art Wiederholung des letzten Weltkrieges ausgetragen wurde. Nachdem Hitler die Gestalt Sadam Husseins angenommen hat, schien nun die Reihe an Milosevic zu sein, ihn zu verkörpern. Das schlimme Schicksal der Kosovo-Flüchtlinge erfuhr dadurch eine Bearbeitung, daß es bewußt oder unbewußt mit dem Schicksal der Juden im Dritten Reich verknüpft wurde. In Amerika soll sich die Zustimmung zu diesem Krieg wesentlich erhöht haben, nachdem im Fernsehen Bilder von Kosovo-Flüchtlingen gezeigt wurden, die an Bilder aus dem Film "Schindlers Liste" erinnerten. Deutsche Politiker, vor allem solche, die sich der Linken zurechnen, sahen sich dazu berufen, endlich auf der richtigen Seite den Kampf gegen den Faschismus zu führen. Nicht nur in den westlichen Medien, auch in denen Serbiens wurde der Zweite Weltkrieg fortgesetzt. Der Kampf gegen die Nato erschien dort als Fortsetzung des Partisanenkampfes gegen den Faschismus. Auch die Einstellungen von Kriegsgegnern hatten viel mit Erfahrungen aus dem Weltkrieg zu tun. Die Natobombardements auf Serbien erregten Abscheu, weil sie Assoziationen an das Leid der Zivilbevölkerung während der Bombardements deutscher Städte im Weltkrieg weckten. Jeder gegenwärtige Krieg wird bei uns heute vor der Folie des letzten Weltkriegs interpretiert. Kriege bringen Traumatisierungen mit sich, die sich so ins kollektive Gedächtnis einschreiben, daß sie in gewisser Weise kaum jemals wirklich beendet werden können. Das Fortwirken von Kriegen im Bewußten und Unbewußten von Völkern kann dazu führen, daß das kritische Bewußtsein wachgehalten wird, es kann es aber auch mit sich bringen, daß man so an die Bilder der Vergangenheit gefessels bleibt, daß man die Gegenwart nicht wirklich zur Kenntnis nimmt.

Der Krieg verlangt die Aufhebung des Tötungstabus, das ansonsten für das Zusammenleben von Menschen als unabdingbar erscheint. Das Tabu, daß man andere Menschen nicht töten oder physisch verletzen darf, auf das jedes friedliche Zusammenleben von Menschen angewiesen ist, wird im Kriegsfall vom Staat außer Kraft gesetzt. Das verändert die kollektive psychische Realität weitreichend: der Einfluß des Unbewußten gewinnt entscheidend an Gewicht, Triebe und Affekte verschaffen sich auf andere Art Geltung. Deshalb sind Kriege immer schlimmer als vorher angenommen wurde, die Enthumanisierung nimmt immer ein Ausmaß an, mit dem vorher nicht gerechnet wurde. Die Aufhebung des Tötungstabus fordert starke, "heilige" Rechtfertigungen. Das begünstigt simple schwarz-weiß Bilder, die das Gute nur im eigenen Lager und das Böse einseitig beim Feind ansiedeln. Noch nie wurde ein Krieg begonnen, der nicht auf irgend eine Weise als Notwehrakt gegen einen teuflischen Gegner gerechtfertigt wurde. Solche Darstellungen lassen Aggressionen zu, die die Kriegs-bereitschaft gegenüber dem Feind fördern, sie erlauben es, sonst unkontrollierbare Ängste einzugrenzen und können helfen, Schuldgefühle abzuwehren, die das Töten anderer Menschen mit sich bringt. Das macht es dem Ich sehr schwer, sich der Lüge und der Realitätsverleugnung zu erwehren.

II

In den Medien erschien der Kosovo-Krieg typischerweise als ein Konflikt zwischen zwei Volksgruppen, die schon seit Jahrhunderten Schwierigkeiten miteinander hatten, und der nun von einem brutalen serbischen Diktator auf so mörderische Weise eskaliert wurde, daß die Nato zur Intervention gezwungen war. Solche Interpretationsmuster mögen zwar Elemente der Wahrheit enthalten, sie werden aber der besonderen historischen und sozialen Konstellation, aus der dieser Krieg resultierte, keineswegs gerecht. Die gewaltsam ausgetragenen Konflikte auf dem Balkan sind nicht zuletzt Ausdruck einer umfassenden gesellschaftlichen Krise, die mit dem Scheitern des dortigen Sozialismus und der Etablierung des Kapitalismus einhergeht. Nahezu alle Staaten am Rande der ehemaligen Sowjetunion zeigen verwandte Krisensymptome. Das Ende des Sozialismus hat dort einen Zerfall sozialer Institutionen mit sich gebracht, der nicht nur die Hoffnung auf Veränderung, sondern auch massive soziale Ängste freigesetzt hat. Für viele ist er mit der Bedrohung durch Armut, Orientierungslosigkeit und soziale Entwurzelung geknüpft. Das Scheitern des Sozialismus hat in Jugoslawien nicht nur einem staatlichen Machtzentrum ein Ende bereitet, das die Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen autoritär in Grenzen halten konnte, es hat auch Wert-orientierungen zerstört, die, zumindest in ihren Anfängen, Formen sozialer Solidarität zwischen diesen absichern konnten. Der spezifisch jugoslawische Sozialismus, der mit dem Partisanen-kampf gegen den Faschismus und der Behauptung gegen das Hegemoniestreben der früheren Sowjetunion verknüpft war, erzeugte ursprünglich bei vielen Hoffnungen, deren schmerzliche Enttäuschungen die Brutalisierung der Gegenwart gefördert hat. Wo die Einführung des Kapitalismus stattgefunden hat, hat dies bisher noch kaum zu einer wirklichen Überwindung der sozialen Krise geführt, sie hat überdies den sozialen Zusammenhalt neuen Belastungen ausgesetzt. Massenarmut und neuer Minderheitenreichtum, extrem hohe Arbeitslosenraten, Kriminalität, die in mafiosen Strukturen ihren Ausdruck findet und eine sich verschärfende Konkurrenz, die die Tendenz zur Atomisierung der Gesellschaft in sich trägt, untergraben eine mit sozialer Gerechtigkeit verknüpfte Stabilität. Politische Institutionen und eine demokratische Kultur, die dem entgegenwirken könnten, haben sich bisher noch kaum etabliert. Ein Mangel an demokratischen Traditionen schwächt den Willen zur individuellen und kollektiven Selbsttätigkeit, den die Gesellschaft zur Lösung ihrer Probleme benötigt.

Die Erfahrung angsterregender Hilflosigkeit gegenüber sozialen Entwicklungen und eine individuelle oder kollektive Perspektivlosigkeit arbeiten einem aus Verzweiflung geborenen totalitären Potential in die Hände. In desorientierten Bevölkerungen gedeiht die Sehnsucht nach dem starken Mann, der endlich Ordnung schafft. Eine Figur wie Milosevic wäre ohne eine solche Massenstimmung nicht an die Macht gekommen. Die sich schwach fühlenden Einzelnen hoffen auf Sicherheit und narzißtische Stabilisierung in machtvoll auftrumpfenden nationalen Kollektiven. Die Überwältigung durch die Misere der Gegenwart drängt zur Flucht in Phantasmen, die mit der geschichtlichen Vergangenheit verknüpft werden. Die Tabuisierung vergangener Konflikte zwischen den jugoslawischen Volksgruppen während der kommunistischen Ära hat deren bewußte öffentliche Aufarbeitung verhindert. Das hat eine prekäre Reaktivierung früherer Ängste und unbetrauerter schmerzlicher Verluste durch heutige Probleme begünstigt. Aber es ist keineswegs, wie viele Analysen des Balkans behaupten, vor allem eine unbewältigte Vergangenheit, die die gegenwärtigen Konflikte auflädt. Es sind vielmehr vor allem die unbewältigten Probleme der Gegenwart, die eine Regression in die Vergangenheit hervorbringen. Vor gegenwärtigen Bedrohungen, denen man sich nicht gewachsen fühlt, flüchtet man in das, was als Vergangenheit konstruiert wird. Die Wunden der Vergangenheit erlangen ihre Bedeutung vor allem aufgrund der Erfahrungen mit den individuellen und kollektiven Niederlagen der Gegenwart. In der Flucht in Nationalismen kommt zugleich eine kollektive entwicklungspsychologische Regression zum Ausdruck. Der Nationalismus lebt von der unbewußten Reaktivierung familiärer Beziehungsmuster und der mit ihnen in der Kindheit verknüpften Emotionen, die auf soziale Kollektive übertragen werden. Diese erscheinen dann als eine Art Familienverband, der durch Blutsbande gestiftet wird und die auszuschließen zwingt, mit denen man sich nicht verwandt fühlt. Die Gestaltungsaufgaben des Politischen werden durch diese unbewußte kollektive Flucht ins infantile Familiäre untergraben.

In sozialen Krisen können sich Menschen als vom sozialen Tod bedroht erfahren. Die Angst vor dem eigenen sozialen Tod drängt im Extremfall dazu, sie dadurch abwehren zu wollen, daß man sie Minderheiten aufbürdet. Wer den Tod zu sehr fürchten muß, kann danach streben, Macht über ihn zu erlangen, indem man ihn anderen aufzwingt. Ein mit Selbstzweifeln und Depressionen verbundener Selbsthaß, der aus Ohnmachtserfahrungen resultiert, kann dadurch vermindert werden, daß man Haßobjekte außerhalb seiner selbst sucht, auf die die selbstdestruktiven Regungen verschoben werden. Eine Kultur, der es an mit demokratischen Traditionen verbundener sozialer Solidarität mangelt, tendiert zur Flucht in nationalistische Phantasmen, die nur dadurch ein Gefühl sozialen Zusammenhalts vermitteln können, daß die im sozialen Kollektiv vorhandenen destruktiven Regungen auf soziale Minderheiten und Außen-feinde verschoben werden. Die soziale Misere erzeugt nicht nur den Haß von Serben auf die Minderheit der Kosovaren, sie erzeugt auch den Haß von Kroaten auf die Minderheit der Serben in Kroatien ebenso wie den von Kosovaren auf die Minderheit der Serben im Kosovo. Die "ethnischen Säuberung" soll wenigstens die wahnhafte Fiktion verleihen, unter Gleichen seinen sozialen Ort gefunden zu haben. Diese Fiktion kann der Verschleierung von vielerlei Interessen dienen, sie kann propagandistisch als Schirm genutzt werden, hinter dem alte und neue Machtgruppen ihre Pfründen und Einflußsphären verteilen. Daß der Haß auf Minderheiten insgeheim im Selbsthaß wurzelt, kommt beispielsweise dadurch zum Ausdruck, daß die Serben, die auf die Mißhandlung und Vertreibung der Kosovaren aus sind, durch ihr Tun insgeheim auch immer selbstzerstörerisch handeln. Das, was unter ihrem Einfluß als serbische Politik Gestalt annimmt, ist zu Niederlagen verurteilt und setzt die serbische Bevölkerung extremen sinnlosen Belastungen aus.

Die weitreichenden sozialen Krisen, die die gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Balkan hervorbringen, sind kaum durch Natobomben aus der Welt zu schaffen. Diese dürften vielmehr die Angst, die zur selbstzerstörerischen Gewalt wie zur Gewalt gegen andere tendieren läßt, verstärkt haben. Die Intervention der Nato, die die Vertreibung der Kosovaren durch die Serben verhindern sollte, hat wahrscheinlich die Vertreibung der Serben durch die Kosovaren zur Konsequenz. Es findet jetzt eine "ethnische Säuberung" unter umgekehrten Vorzeichen statt. Die unter dem Einfluß der Nato forcierten kriegerischen Auseinander-setzungen haben unzählige Menschen traumatisiert, die ihrem Leid durch die Flucht in die Gewalt zu entkommen suchen. Eine Gesellschaft kann erst dann friedensfähig sein, wenn sie ihren Mitgliedern ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu garantieren vermag, das durch soziale Sicherheit und Gerechtigkeit wenigstens ein Stück weit abgestützt wird. Nur unter solchen Bedingungen ist auch eine Trauerarbeit möglich, die die schmerzlichen Verluste, die Krieg und Verfolgung mit sich gebracht haben, so aufzuarbeiten erlaubt, daß nicht mehr im Haß Entlastung von unerträglichen sozialer und psychischen Spannungen gesucht werden muß.

III

Der Westen tritt mit dem Anspruch auf, durch den Einsatz militärischer Mittel einen Friedens-prozeß auf dem Balkan unterstützt zu haben. Aber ist er, anders als der krisengeschüttelte Balkan, heute wirklich friedensfähig? Auch die sozialen Konstellationen in unseren Breiten zeigen weitreichende Krisentendenzen. Massenarbeitslosigkeit z. B. sorgt dafür, daß Millionen von Menschen das Gefühl bekommen, überzählig zu sein und nicht mehr gebraucht zu werden. Auch diejenigen, die einen Arbeitsplatz besitzen, werden dadurch bedroht, daß sie fürchten müssen, in eine solche Lage zu geraten. Die wachsende Übermacht des Ökonomischen gegenüber dem Politischen bringt einen Abbau der demokratischen Substanz unserer Kultur mit sich. Demokratie scheint sich immer mehr auf das Recht zur "freiwilligen" Anpassung an wirtschaftliche Zwänge zu reduzieren, ohne daß diese Anpassung eine gesicherte Gegenwart und Zukunft zu garantieren vermag. Eine das öffentliche Bewußtsein beherrschende Gleich-setzung von Demokratie und Marktwirtschaft bringt bei Krisentendenzen des Kapitalismus nahezu automatisch antidemokratische Tendenzen hervor. Die bestehenden Zustände verlangen an vielen Stellen die gründliche Reform aber die Gesellschaft erweist sich zugleich als weitgehend reformunfähig. Der Wille zu notwendigem sozialem Wandel stößt auf übermächtige wirtschaftliche Interessen. Die Bevölkerungen wollen Veränderungen und sind zugleich von einer tiefsitzenden Angst vor jeder Veränderung erfüllt. Zu mehr Demokratie und Gerechtigkeit führende soziale Veränderungen sind an bestimmte Formen der Konfliktaustra-gung gebunden. Zum Besseren führende Veränderungen kommen nur zustande, wo sie in rational ausgetragenen Konfikten durchgesetzt werden. Die gegenwärtige soziale Situation ist aber nicht nur in Deutschland durch eine eigentümliche Stillstellung oder erstarrte Austragung sozialer Konflikte gekennzeichnet. Der Generationskonflikt hat viel von seiner Bedeutung eingebüßt, die Lebensziele von Jüngeren unterscheiden sich kaum noch von denen der Älteren. Die Konflikte zwischen Frauen und Männern werden aufgrund der Verfallstendenzen der Frauenbewegung wieder stärker in den privaten Bereich abgedrängt. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit hat aufgrund der Schwächung der Gewerkschaftsbewegung kaum noch die Tendenz, mehr Gerechtigkeit und Mitbestimmung hervorzubringen. Seit dem Ende des "real existierenden Sozialismus", der den universellen Triumph des Kapitalismus mit sich gebracht hat, tendieren ehemals kritische Intellektuelle dazu, das Jasagen zu üben, er triumphiert der "real existierende Opportunismus". Das Ende des Staatssozialismus hat keines-wegs nur in Osteuropa weitreichende moralische Zusammenbrüche ausgelöst. Es hat insgeheim auch die westliche Kultur entscheidend verändert, weil dieses Ende ganz allgemein den Glauben, daß das Bestehende grundlegend verändert werden kann, entscheidend geschwächt hat. Wo aber der Glaube an etwas fehlt, das das Bestehende auf etwas anderes hin transtendieren kann, ist wahrscheinlich keine wirkliche Moralität mehr möglich, es bleibt nur das Mitmachen.

Ungelöste gesellschaftliche Probleme, denen gegenüber die Einzelnen sich als ohnmächtig erfahren, produzieren bei uns viel aus ängstigender Hilflosigkeit resultierende Überanpassung. Die Aggression, die durch vielfältige narzißtische Kränkungen aufgeladen werden kann, geht dann nicht in das Ringen um notwendige Veränderungen ein, sie wird leicht auf selbst-zerstörerische Art wirksam oder sie wird auf Außenfeinde verschoben. Wo eine Gesellschaft ihre Konflikte nicht auf rationale Art austrägt, tendiert sie dazu, sie nach innen oder außen zu verlagern. Sie braucht Feindbilder, welche den Status quo absichern helfen, die durch die eigene latente Aggressivität projektiv aufgeladen werden können. Weltweite Krisentendenzen sorgen unschwer dafür, daß sich Machthaber oder Populationen auffinden lassen, die abstoßende Züge aufweisen, mit denen sich diese Feindbilder verknüpfen lassen. Der Umgang mit sozialen Problemen ist heute in den westlichen Staaten stark durch diese Art des Realitätsbezugs mitbestimmend.

In den Vereinigten Staaten, der Führungsmacht der westlichen Welt, verschärft sich die Diskrepanz zwischen Armut und Reichtum. Große Teile der unteren Sozialschichten müssen dort unter schlimmen Verhältnissen leben, die eine individuelle und soziale Desorganisation mit sich bringen, welche in eine wachsende Brutalisierung mündet. Anstatt Abhilfe durch grundlegende soziale Veränderungen für die Benachteiligten anzustreben, organisiert man dort vor allem die polizeiliche Aufrüstung im Kampf gegen eine Kriminalität, die nur ein Symptom dieser Misere ist. Im Kampf gegen die Verelendung der Unterprivilegierten setzt man vor allem auf den Bau von Gefängnissen; Hinrichtungen von Angehörigen sozialer Minderheiten erfreuen sich einer breiten perversen Zustimmung. Kann eine Gesellschaft, die mit aus sozialer Benachteiligung resultierenden Gewaltpotentialen dermaßen fragwürdig umgeht, anderswo mit Hilfe des Militärs mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit in die Welt bringen, die der Tendenz zur Gewalt die Basis entziehen? Können reiche Gesellschaften, die Armut und Arbeitslosigkeit bei sich selbst nicht überwinden können, sie anderswo beseitigen und damit mehr Friedfertigkeit stiften?

Mit dem Ende des Ostblocks hat der "kalte Krieg" ein Ende gefunden, der zur Rechtfertigung einer westlichen Hochrüstung diente. Ein potentieller Angreifer, der die bisherigen enormen Verteidigungsanstrengungen weiterhin zu rechtfertigen erlaubt, war und ist kaum noch auszumachen. In dieser geschichtlichen Konstellation hätte eine friedensfähigere Gesellschaft sehr weitreichende Abrüstungsmaßnahmen unternommen, um Gelder für Entwicklungsprojekte zur Verfügung zu stellen, die vielerorts der Tendenz zur Gewalt durch die Schaffung von mehr sozialer Stabilität hätten entgegenwirken können. Weltmachtinteressen, der enorme politische und ökonomische Einfluß des militärisch-industrieellen Komplexes und ein fehlgeleitetes Sicherheitsbedürfnis von Bevölkerungen haben diese Art der Konfliktlösung unmöglich gemacht. Unter diesen Umständen brauchen die weiter existierenden überdimensionierten Militärapparate neue Rechtfertigungen, sie sind auf neue Feindbilder angewiesen. Der Kampf gegen den Fundamentalis-mus, den internationalen Terrorismus oder der um die Verteidigung der Menschenrechte soll nun die fortexistierende Militarisierung der Politik legitimieren. Daß in der Welt vielerorts grauen-hafte Zustände herrschen, die nach Veränderungen schreien, vermag dieser Politik die Zustimmung von Gutgläubigen zu verleihen. Das vorhandene militärische Potential des Westens kann wohl auch einmal zum Schutz von Menschenrechten eingesetzt werden, die Gefahr ist aber sehr groß, daß es auch ganz anderen Interessen dienstbar gemacht werden. Die "westliche Wertegemeinschaft", die in Kriegszeiten gerne beschworen wird, hat ihre Basis vor allem in wirtschaftlichen Werten.

Das entscheidende militärpolitische Problem der Gegenwart besteht nicht mehr darin, in wessen Interesse die vorhandenen Militärapparate eingesetzt werden, es besteht vor allem darin, daß sie ein ungeheures Destruktionspotential enthalten, dessen scheinbar nur instrumenteller Einsatz nahezu automatisch politisch nicht berechenbare Folgewirkungen zeitigt, die das Leben potentiell aller Menschen bedrohen. Der Kosovo-Krieg kann auch deutlich machen, wie leicht eine militarisierte Politik in die Sackgasse geraten kann und welche fatalen weltweiten Wirkungen das heraufzubeschwören vermag. Er hat Folgewirkungen angestoßen, die weit über Jugoslawien hinausreichen und noch nicht wirklich abzusehen sind. Er hat z. B. in Rußland bei vielen die Angst vor dem Westen so verstärkt, daß das eine grundlegende Veränderung der russischen Politik begünstigen kann, er hat China, durch die Bombardierung seiner Botschaft, in einen Konflikt mit dem Westen hineingezogen, er hat das Völkerrecht geschwächt, er hat in Deutschland dafür gesorgt, daß Kriege wieder legitimiert werden können, er wird vielerlei Aufrüstungsmaß-nahmen begünstigen. Günther Anders hat in seinem Text "Die Antiquiertheit des Menschen" deutlich gemacht, daß die Existenz der Atombombe und anderer moderner Waffensysteme eine weltgeschichtliche Zäsur darstellt, die die Bedeutung des Militärs grundlegend verändert. Nachdem solche Einsichten in den 70er und 80er Jahren einigen Einfluß hatten, scheinen sie heute wieder der Verdrängung verfallen zu sein. Politiker und Militärs träumen vom technisch perfekten "konventionellen Krieg", der ohne eigene Verluste geführt werden kann. Bei dieser Art des Militärschlags, der gegen Serbien ausprobiert wurde, wird der militärische Gegner als Mensch unsichtbar. Die Piloten, die Bomben auf ihn abwerfen, können kaum noch eine Beziehung zu ihm herstellen, der Einsatz von Zerstörungsmitteln wird nur noch als ein primär technisches Problem erfahren. Während des Kosovo-Krieges wurde viel über das Leiden der Kosovo-Flüchtlinge berichtet, die Identifikation mit ihnen legitimierte den Natokrieg. Während des gesamten Krieges habe ich nie eine Stellungnahme von kriegführenden westlichen Politikern oder Militärs vernommen, die ihr Bedauern darüber ausgedrückt haben, daß serbische Soldaten diesem Krieg zum Opfern gefallen sind. Sie tauchten allenfalls nach dem Krieg enthumanisiert als Zahlen in der Statistik auf. Vielleicht waren unter ihnen Wehrpflichtige, die diesen Krieg ablehnten; auch wenn sie verbrecherische Nationalisten waren, sollte man sie betrauern, weil sie nicht als solche auf die Welt kamen und ihr Leben sie in eine Sackgasse geführt hat. Diejenigen, die in Deutschland den Natoeinsatz propagistisch legitimiert haben, zeigten häufig die Tendenz vor Menschlichkeit zu triefen, daß für sie die gefallenen Soldaten des Gegners als Menschen nicht existierten, läßt für die Zukunft Schlimmes befürchten.

In Serbien nahm der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, seinen Ausgang. Dieser erste moderne Krieg hat industrialisierte Schlachthäuser und Blutmühlen hervorgebracht, die die Brutalitätsmuster für den Zweiten Weltkrieg und den industrialisierten Massenmord an wehrlosen Minderheiten vorgeprägt haben. Wo die Geschichte militärischer Katastrophen nicht wirklich aufgearbeitet wird, droht der Wiederholungszwang. Die Militärs aller Kriegsparteien glaubten den Ersten Weltkrieg in kurzer Zeit erfolgreich beenden zu können. Er dauerte vier Jahre und konnte, genauer betrachtet, nie wirklich beendet werden, er wirkt bis heute bei uns, in Jugoslawien und anderswo fort. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges brachten Karl Kraus dazu, sein Stück "Die letzten Tage der Menschheit" zu schreiben. Wenn wir nicht lernen, zerstörerischer Gewalt mit neuen und anderen Fragen gegenüberzutreten und für soziale Konflikte neue und andere Lösungsformen zu suchen, könnten wir alle Opfer einer militarisierten Machtlogik werden, die Realität werden läßt, was jener Titel verheißt.