Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

Start Biographie Bücher Texte Impressum Kontakt

Rezensionen zu Gerhard Vinnai "Jesus und Ödipus"*

Von Hartmut Raguse (Basel)
Erschienen in: PSYCHE 12, 56. Jahrgang, Dezember 2002, Klett Cotta, Stuttgart

»Jesus und Ödipus sind zentrale Figuren europäischer Innerlichkeit«, so beginnt der Bremer Sozialpsychologe Gerhard Vinnai sein Buch. Während sich über Jahrhunderte die Menschen an Jesus orientiert hätten, sei an seine Stelle jetzt oftmals Ödipus getreten, und zwar der Ödipus Freuds. Beide stehen aber nicht im Gegensatz, sondern sind eng verwandt und haben deshalb in ähnlicher Weise die westliche Kultur geprägt. Im Vordergrund des Buches aber steht Jesus: »Jesus symbolisiert auf verschlüsselte Art eine geheime psychologische Wahrheit des Abendlandes, die es zu enthüllen gilt« (S. 9).

Dieser Enthüllung gelten die ersten 198 Seiten des Buches. Zwar geht es Vinnai nicht darum, die Kirche und ihre Lehre zu bekämpfen, aber die Tendenz seines Buches, genauer: seines ersten Hauptteils, wird doch schon im ersten Kapitel deutlich, das den Titel trägt »Die Liebesreligion als Religion der Gewalt«. Der christlichen Liebe folgt ein Blutstrom durch die Kirchengeschichte hindurch. Und das zweite Kapitel »Vom Anfang und Ende der (biblischen) Geschichte«, eine Interpretation der Schöpfungsgeschichte und der Apokalypse, führt diese Linie noch weiter aus. Es sei die Illusion einer letztlichen Wiederkehr des Paradieses, die eine solche Gewalt erzeuge. Da sich der Autor hierfür nicht nur auf Janine Chasseguet-Smirgel, sondern auch auf ein Buch von mir selber mehrfach bezieht, ist eine differenzierende Stellungnahme nötig. Vinnai geht es nicht um die psychoanalytische Methodik. Zwar anerkennt er die Bedeutung des subjektiven Faktors, aber in Kombination mit Befunden anderer Geisteswissenschaften könne die analytische Interpretation zu Ergebnissen kommen, die über die Subjektivität des Interpreten hinausweisen. Dem kann ich zustimmen, aber die spezielle Subjektivität von Vinnai verengt die Perspektive, die er auf die Geschichte der Jesus-Gestalt in den letzten zwei Jahrtausenden einnimmt. In der Terminologie Melanie Kleins gesprochen, schreibt Vinnai fast ausschließlich aus der paranoidschizoiden Position, er ist der Verfolger, die Wirkungsgeschichte Jesu die Verfolgte. Auf diese Weise ist seine Darstellung inhaltlich zwar oft einleuchtend, aber fast durchgehend verurteilend, und es ist sicherlich kein Zufall, daß seine theologischen Hauptzeugen K. Deschner und Uta Ranke-Heinemann sind, gelegentlich auch Drewermann. Sein Buch widerspricht damit der spezifischen psychoanalytischen Deutungskunst, die zuerst die innere Wirklichkeit konstruiert und allenfalls zum Schluß auch zu Wertungen kommen kann.

Zu dieser durchgängig wertenden und verurteilenden Position kommt noch eine irritierende Unklarheit des Buches hinzu. Es ist mir nicht deutlich geworden, wer oder was der Gegenstand der Interpretation ist. Der historische Jesus ist es ausdrücklich nicht. Es ist auch nicht der biblische Text, obwohl dieser ausdrücklich in der Übersetzung Luthers zitiert wird. Es geht Vinnai anscheinend überhaupt nicht primär um Texte, sondern diese sind nur Belege für das, was er gelegentlich das »traditionelle Christentum« nennt. Doch das hat eine ähnlich bestimmte Realität wie »Die deutsche Universität« oder «Die Psychoanalyse der Gegenwart«. Es ist eine Konstruktion, für die aus dem breiten Kontinuum aller Möglichkeiten dasjenige Material ausgewählt wird, das sie tragen kann. Die verfolgende Subjektivität des Autors wird dabei kaum reflektiert, aber sie ist am Werk in einer Methodik, die die passenden Elemente aussucht (und deren gibt es in der Tat genug) und, weil sie nicht in einem analytischen Prozeß verankert ist, weitgehend »wilder Psychoanalyse« entspricht. Zwei methodische Elemente sind hier, vor allem in dem folgenden großen Hauptabschnitt »Jesus und Ödipus« vorherrschend: Symboldeutungen (»Das Grab Jesu kann als Leib der Mutter verstanden werden« (S. 94|) und lange Zitatreihen vor allem aus den Schriften von Freud und Reik, die wie »Schriftzitate« die Argumentation tragen müssen. Was ich bisher kritisch gesagt habe, wäre, für sich allein genommen, ein Grund, das Buch beiseite zu legen. Aber, und das ist recht überraschend, es ist keineswegs alles. Es gibt noch eine zweite Argumentationslinie im Buch. Sie beginnt schon früh. An einer Stelle zitiert Vinnai zustimmend Freuds Kritik an der Liebesethik der Bergpredigt, aber dann räumt er ein, daß diese Kritik die »provozierende Irritation« vernachlässige, »die davon ausgehen kann, daß die Logik des Austauschs von Äquivalenten, die in alle Gerechtigkeitsvorstellungen eingeht, radikal in Frage gestellt wird« (S. 31). Und nachdem nicht zuletzt auch Nietzsche für den Gewaltcharakter der christlichen Religion als Zeuge angerufen wird, schreibt Vinnai auf S. 52, daß keineswegs die christliche Religion selber Quelle der Gewalt sei, sondern in ihr spiegelten sich nur weltliche Gewaltverhältnisse von Vätern, die für ihre eigenen Machtgelüste ihre Söhne als Opfer in den Krieg schickten. Das läßt sich kaum mit den vorhergehenden Analysen, die gerade die Gewalttätigkeit der Liebesreligion selber aufzeigen, widerspruchsfrei in Verbindung setzen. Die Überraschung wird ab S. 199 noch größer. Voraus gehen umfangreiche Analysen der Gestalt Jesu vor dem Hintergrund der ödipalen Situation, wobei immerhin interessant und teilweise auch neu ist, wie Vinnai dem bei Freud meist fehlenden Element des Weiblichen im ödipalen Drama der christlichen Religion zu seinem Recht verhilft. Aber insgesamt bleibt das Christentum die Religion der Gewalttätigkeit, der Kastration und der Unterdrückung der Sexualität. Doch ab S. 199 wird endgültig ein anderer Ton laut. Vinnai wendet Freuds Religionskritik auf die psychoanalytische Theoriebildung an, und hier zeigt sich deutlich, wie die untergründige Struktur der Psychoanalyse von religiösen Systemen geprägt ist. Nach dem Vorausgehenden sollte man denken, daß der Autor deshalb auch die Psychoanalyse vor allem kritisch sieht. Doch das ist nur zum Teil der Fall. Er fragt sich vielmehr: »Enthält die Religion nicht vielleicht auch verdeckte oder verzerrte Wahrheiten, verarbeitete Erfahrungen oder Gefühlsdimensionen, die das wissenschaftliche Denken bisher übersehen hat und die vom kritischen Bewußtsein noch zu bearbeiten wären?« (S. 204.) Die Religion wird also zum positiven Bezugspunkt einer Kritik der Psychoanalyse. Die vaterorientierte Struktur der psychoanalytischen Theorie und der Bewegung der Psychoanalyse selber wird deutlich, wenn man die religionskritischen Schriften nicht nur auf die Religion, sondern auch auf Freud bezieht. Das ist noch ein Stück Kritik. Wichtiger ist aber ein zweiter Punkt. Freud versteht die Religion einseitig als Verarbeitung der Ohnmacht gegenüber Naturgewalten. Daß Religion auch auf die gesellschaftliche Realität antwortet, beachtet er nicht. Und in ähnlicher Weise sei dieses auch in der psychoanalytischen Theorie ausgeblendet. Die Religion eröffnet hier eine neue Perspektive für die Psychoanalyse, aber eine solche, die auch bei Freud immerhin in versteckter Form vorhanden ist. Vinnai zeigt hier überzeugend, wie sich eben diese gesellschaftliche Dimension bei Freud in verschobener Weise wieder durchsetzt. Totem und Tabu sei viel weniger als ethnologische Untersuchung zu lesen - als diese genommen ist sie falsch-, sondern als verdeckte Analyse der bürgerlichen Revolutionen, die mit der Französischen Revolution begannen und in denen Freud selber noch steht. Die »Brüder« sind die Bürger, die sich gegen die Feudalherrschaft erheben - und sie doch nur immer wieder aufrichten. Gerade die Ausblendung des Elements der Frau wird zum Vehikel der revolutionären Wiederholungen des Gleichen. Wirkliche Veränderung sei nur zu erwarten, wenn auch die Geschlechterthematik verarbeitet werde. Die Vatersehnsucht findet bei Freud nicht nur eine Erfüllung im Gottesglauben, sondern auch noch eine zweite in dem Anspruch auf »Wahrheit«, den Freud als absolutes Ziel gegen alle Relativierung aufrechterhält. Freuds Anspruch erhält manchmal nahezu »heilige Züge« (S. 215) und deutet damit seinen religiösen Ursprung an. Doch sei dieser Anspruch eine Illusion, die man mit der von Freud aufgedeckten religiösen Illusion vergleichen könne. Und sie sei nicht einmal wünschenswert. Denn Wissenschaft gehorche nicht nur dem Realitätsprinzip, in ihr lebe auch weiterhin ein Stück des Glaubens an die Allmacht der Gedanken. Und hier scheint mir ein zentraler Gedanke des Buches von Vinnai zu liegen. Die umgewandelte Form dieser Allmacht ist die Möglichkeit, über die vorfindliche Wirklichkeit hinaus zu denken und sich Alternativen vorzustellen. Was der Autor hier einführt, das ist das eschatologische oder auch messianische Prinzip in einer säkularisierten Form. Doch auch, wenn es der ursprünglichen religiösen Sphäre entnommen ist, sprengt es noch die unbefragten Normen der alltäglichen Wirklichkeit und weist über sie hinaus in die Zukunft.

Ebenso überzeugend ist eine weitere Beobachtung. Sogar die kritische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft findet sich bei Freud, aber sie ist verschoben und kehrt wieder in Freuds Antiamerikanismus, den Vinnai in Anlehnung an P. Gay ausführlich vorführt. Im Gegenbild des Amerikaners setzt sich der Konservative Freud mit den Widersprüchen der Gesellschaft auseinander, unter denen er leidet, ohne sie abschaffen zu wollen. Im letzten Kapitel schließlich mit der Überschrift »Das Andere im Innern« fragt sich der Autor, ob der Übergang von der Religion zur wissenschaftlichen Aufklärung nur ein Fortschritt sei, oder ob er nicht vielmehr auch Verluste gebracht habe. In der Tat ist das wichtigste Defizit der Verlust einer »gereiften Kindlichkeit«. Das forschende, kreative Kind ist in der Wissenschaft verpönt und aus ihr verbannt. Statt dessen mache sich neben aller Nüchternheit eine massive Infantilität breit. Aber es gehe um ein phantasievolles Denken, das auch mit dem Wünschen in Verbindung bleibe und das die Rationalität unterstütze. Freud habe das faktisch gehabt, sonst hätte er nicht eine revolutionäre Theorie entwickeln können. Aber in seiner Theoriebildung komme das nicht vor. Es ist auch hier wiederum das die Wirklichkeit übergreifende Element, das »Prinzip Hoffnung«, das die Religion in die Wissenschaft einbringen könne. Für mich sind, gerade diese Ausführungen die überzeugendste Begründung utopischen Denkens innerhalb der Psychoanalyse. Und Vinnai vermeidet dabei zugleich die Gefahr, die von der Utopie ausgeht, sei es die christliche oder auch die marxistische, daß sie sich ihren Weg zur Verwirklichung mit Gewalt bereitet. Denn das utopische Denken ist nicht herrschend, es steht unter der Kontrolle der Rationalität, aber es gibt ihr zugleich Lebendigkeit und eine Verbindung zu dem Wunsch, daß die Wirklichkeit anders, besser sein könne. Nachdem Vinnai vor allem mit schönen Augustin-Zitaten die Nähe des Freudschen Unbewußten zum klassischen Gottesbegriff demonstrier, kommt er zu seinem Schlußabschnitt. Hier beruft er sich auf Adorno gegen Freud: »Erkenntnis hat kein Licht als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« Die Nachfolge des Christentums hatte der Sozialismus angetreten, dessen »realexistierende« Version die Neigung aller zum »realexistierenden Opportunismus« (S. 271) begünstigte. Zur Zeit scheint die kapitalistische Industriegesellschaft ohne Alternative zu sein. Aber die Versagungen, die auch diese Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, führt zur Wunschproduktion, die zu Wahnsystemen oder aber zu einer produktiven Auseinandersetzung mit der Zukunft anleiten. In diesem Schlußabschnitt ist Vinnai diskret mit Verweisen auf die Religion. Aber wenn man sieht, wie sehr er die Wirklichkeit mit der Dimension der Möglichkeit konfrontiert, dann wird deutlich, daß es gerade die Religion war, die diese Sichtweise bewahrt hatte und sie jetzt dem wissenschaftlichen Denken als notwendige Bereicherung gegen einen Verfall an die Tatsächlichkeit übermitteln kann. Die letzten 76 Seiten sind das Beste, was ich seit langem zur Beziehung von Psychoanalyse und Religion gelesen habe. Für sie lohnt sich die Durststrecke des vorhergehenden Textes. Es fällt mir schwer, beide Teile als Einheit zu sehen. Die Redundanz von Kastration im ersten Teil trägt zur großartigen Perspektive des 2. Teils wenig bei. Allenfalls muß man sich wundern, wieso das Christentum trotz aller Kastration außerordentlich viel Hoffnungspotenz hat stehen lassen, die in säkularisierter Form noch heute mächtig ist und die Wirklichkeit immer wieder in Frage stellen kann. Ich kann mir vorstellen, von diesem Buch zunächst nur die Einleitung zu lesen und dann auf die Seite 199 zu springen. Danach ist es möglich, auf S. 19 zurückzugehen - oder auch: es zu lassen.


Von Dr. Ariane Schorn (Bremen/Kiel)
Erschienen in: Journal für Psychologie, Jahrgang 9, 2001, Heft 1, S. 87-88

Freud und das Leid der christlichen (Liebes)Religion - Gerhard Vinnais jüngstes Buch "Jesus und Ödipus"

Der Titel des Buches mag zunächst einmal irritieren: Was verbindet die beiden mythischen Figuren Jesus und Ödipus, so daß sie hier in trauter Zweisamkeit genannt werden? Vinnai, der in der Tradition der analytischen Sozialpsychologie steht, untersucht die Verwandtschaft zwischen diesen beiden Sinngestalten der westlichen Kultur; er beleuchtet in seinem Buch die Beziehung von Psychoanalyse und Religion. Ausgangspunkt ist hierbei der Text der Luther-Bibel, der auf der Grundlage psychoanalytischer Einsichten eine Neuinterpretation erfährt. Philosophische, historische und soziologische Überlegungen werden dabei hinzugezogen. Vinnais Arbeit zielt auf eine kritische Analyse der unbewußten Dimensionen der okzidentalen Kultur ab. Seine psychoanalytische Interpretation der christlichen Lehre macht deutlich, daß Leben, Tod und Auferstehung Jesu auch als Ausdruck des unbewußten Dramas verstanden werden können, das Freud mit dem Namen Ödipus bezeichnet hat. Neben den Elementen der christlichen Religion, die Vinnai von ödipalen Problematiken bestimmt sieht, macht er auch solche aus, die präödipale Thematiken wie die Loslösung und Individuation aufgreifen. Hinter der patriarchalischen Religion, deren Göttlichkeit von einer Vater-Sohn-Beziehung lebt, entdeckt Vinnai ein heimliches Matriarchat, das die westliche Kultur unterschwellig beeinflußt. Die Figur Jesu Christi wird von Vinnai nicht als eine historische Gestalt interpretiert. Sie, sowie die in die christliche Lehre eingehenden religiösen Vorstellungen, werden vielmehr als ein kulturelles „Produkt“ verstanden, indem unbewußte psychische Konflikte ihren Ausdruck finden. Die biblische Geschichte wirkt in dieser Perspektive wie eine Projektionsfläche, auf der verschiedene entwicklungspsychologische und lebenspraktische Thematiken untergebracht und bearbeitet werden können. Ihr psychoanalytisches Verständnis erlaubt gerade deshalb auch einen Zugang zu den verdrängten Tiefendimensionen der westlichen Kultur. Als Beispiel sei hier die biblische „Erzählung“ von dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Garten Eden genannt. Sie kann als eine Metapher für den notwendigen und schmerzhaften Entwicklungsschritt verstanden werden, der uns aus dem kindlichen Paradies der Einheitserfahrung verstoßen hat. Vinnai: „Die Psychoanalyse hat die Aufgabe, die andere Welt der Religion als Ausdruck der anderen Welt des Unbewußten kenntlich zu machen. (..) Jesus symbolisiert auf verschlüsselte Art eine geheime psychologische Wahrheit des Abendlandes, die es zu entschlüsseln gilt“ (ders. 1999, S. 9).

Im ersten Teil seines Buches nutzt Vinnai das Instrumentarium psychoanalytischer Religionskritik, das in Freuds kulturtheoretischen Schriften seinen Ausgangspunkt findet. Er macht sichtbar, wie in die christliche Religion prekäre Formen des Misslingens infantiler Problematiken eingehen, die im Unbewußten fortwirken und von sozialen Zwängen verfestigt werden. Deutlich wird hierbei, warum die christliche Religion, die beansprucht eine Liebesreligion zu sein, zugleich auch Teil einer westlichen Kultur ist, die sich in ihrer Geschichte nicht selten stärker durch Gewalt und Intoleranz als durch Liebe ausgezeichnet hat.

Während der erste Teil des Buches die Notwendigkeit einer aufklärerischen Religionskritik hervorhebt und damit der Intention Freuds folgt, wendet Vinnai im zweiten Teil seines Buches psychoanalytische Einsichten kritisch auf die Kulturtheorie Sigmund Freuds an, die gerade auch durch die Auseinandersetzung mit der Religion bestimmt ist. Das Kapitel:„Die Wiederkehr des von Freud Verdrängten in seiner Religionskritik“, widmet sich dieser Thematik. Vinnai kann dabei zeigen, daß Freud an der Religion etwas bekämpft, daß in gewisser Weise auch in seiner Wissenschaft fortwirkt: „Der Macht von Wünschen, die Freud im Bereich der Religion am Werk sieht, ist auch die Wissenschaft keineswegs völlig entronnen“ (ebenda, S. 12). Er macht hierbei auch deutlich, daß Freuds Religionskritik eine geheime Revolutionstheorie enthält. Das von Freud verdrängte Politische kehrt in seiner Religionskritik insgeheim wieder.

Das letzte Kapitel fragt nach den Potentialen, nach dem Unabgegoltenen der Religion, das gerade dem kritischen Denken wichtige Impulse geben könnte. Freuds Kulturtheorie ist pessimistisch. Er spricht für ein aufklärerisches Denken, das religiösen Illusionen entsagen will und auf utopische Perspektiven verzichtet. Letztere versteht er als Relikte einer untergegangenen Kinderwelt, die es durch wissenschaftliches Denken zu ernüchtern gilt. Gegen diese Position setzt Vinnai ein theoretisches Denken, das weiß, daß es immer dem Wünschen verhaftet bleibt und sich deshalb um eine produktive Wechselwirkung mit ihm bemüht. Ein solches Denken kann für ihn auch Potentiale der Religion in sich aufheben: „Wer keine Distanz zu dieser Welt zustande bringt, die mit der Sehnsucht nach einer besseren Welt verknüpft ist, wird kaum in der Lage sein, ihre Abgründe zu erfassen. (..) Die großen theoretischen Ernüchterer verfügen üblicherweise über ein utopisches Potential, das erst ihren erhellenden ‘bösen’ Blick auf das Bestehende erlaubt“ (ebenda, S. 268).

Gerhard Vinnai knüpft mit seinem Buch „Jesus und Ödipus“ an die Tradition kritischen psychologischen Denkens an. Er will das (kultur)kritische Potential der Psychoanalyse, das im klinisch-therapeutischen Diskurs zu verkümmern droht, aufgreifen und weiterentwickeln. Die psychoanalytische Religionskritik sowie das Nachdenken über die Grenzen und Möglichkeiten einer psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie erhalten durch Vinnais Buch aufschlußreiche Impulse. Wer als wissenschaftlich nur das gelten lassen will, was methodisch streng abgesichert ist, wird mit Vinnais Text Probleme haben. Wer aber auch auf ein psychologisches Denken setzt, das profunde theoretische Kenntnisse mit einer wissenschaftlichen Phantasie so verknüpft, daß kulturell relevante Phänomene neu erschlossen werden können, der erhält durch die Lektüre von Vinnais Buch interessante Anregungen und Einsichten, die zum Nach- und Weiterdenken provozieren.


Von Stefanie Ott-Frühwald
Erschienen bei www.amazon.de, 1999

Gerhard Vinnai "Jesus und Ödipus"

Zwei Gestalten der Antike, Jesus und Ödipus, nimmt Gerhard Vinnai, Professor für Analytische Sozialpsychologie, in seinem Buch in den Blick. Dabei dient ihm die literarische Gestalt des griechischen Dramas als Paradigma, um die christliche Religion und deren Zentralfigur zu analysieren. Er liefert so eine Interpretation der biblischen Botschaft, die in der Nachfolge der psychoanalytischen Religionskritik Siegmund Freuds steht, setzt sich aber auch kritisch mit der Lehre Freuds auseinander.

Ausgangsbasis ist für Vinnai die Lutherübersetzung der Bibel. Er will sich nicht mit historischen Erkenntnissen der Bibel- und Jesusforschung beschäftigen, sondern mit dem "Jesus der Innerlichkeit" und Frömmigkeitsformen, die durch den deutschen Wortlaut geprägt sind. Nach methodischen Vorbemerkungen macht er sich daran, das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe als Zentrum christlicher Ethik, Paradies- und Weltendeerzählung als christliche Geschichtsdeutung und Leben, Tod und Auferstehung Jesu zu untersuchen. Mit Hilfe des in der Psychoanalyse als grundlegend angesehenen Ödipuskomplexes deckt der Autor das Gewaltpotential auf, das hinter scheinbar liebender Annahme aller Menschen, Hoffnung auf die endzeitliche Erlösung der Gläubigen und der friedfertigen Sohnesfigur des himmlischen Vaters steckt: Christen waren mehrheitlich zu fast allen Zeiten bereit, Andersdenkende in blutigem Gemetzel der Verdammnis anheimfallen zu lassen. In einem zweiten Teil des Buches geht es um die Wiederkehr des von Freud Verdrängten in seiner Religionskritik.

Ziel des Unterfangens ist für Vinnai weder bloße Kirchenschelte noch will er Freudsche Wissenschaftlichkeit in den Himmel loben. Christentum und Psychoanalyse werden beide kritisch untersucht, um letztlich der Aufklärung zu dienen: Die westliche Kultur muß sich immer wieder neu kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, die durch das Christentum entscheidend geprägt ist. Sie muß ihre Schattenseiten aufdecken, um sich der Gegenwart und der Zukunft zu öffnen. Mit dieser Prämisse sei das Buch auch denen empfohlen, die sich als Christen verstehen.

Kurzbeschreibung

Das Buch will die Verwandtschaft zwischen den beiden Sinngestalten der westlichen Kulturen klären helfen, indem es die Beziehung von Psychoanalyse und christlicher Religion untersucht. Es ist für psychoanalytisch Interessierte, für Religionswissenschaftler und Theologen, und darüber hinaus für alle wichtig, die sich mit den Grundlagen unserer Kultur auseinandersetzen.


*Die hier wiedergegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Buch-Fassung des Textes. In der um einige Abschnitte erweiterten PDF-Manuskriptfassung gilt eine abweichende Zählung.