Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Was kann die Psychoanalyse zur Erneuerung der Psychologie beitragen?

Veröffentlicht in: Journal für Psychologie / Theorie • Forschung • Praxis / Jahrgang 1 - Heft 3 - August 1993 / Asanger, Heidelberg
Zusammenfassung: Die Psychoanalyse kann einen wesentlichen Beitrag zur Erneuerung der Psychologie leisten. Sie enthält Potentiale, deren Freisetzung zur Überwindung der von der nomologischen Psychologie verordneten wissenschaftlichen Restriktionen beitragen kann. Um dies deutlich zu machen, werden thesenhaft Denk- und Erfahrungshorizonte beider Theorierichtungen miteinander konfrontiert. (1)

Als der Kulturkritiker Karl Kraus, der an Sprachmustern die Gewalttätigkeit der Gesellschaft ausgemacht hat, am Ende des letzten Jahrhunderts zum ersten Mal das Wort "Menschenmaterial" hörte, sagte er den ersten Weltkrieg voraus. Er tat dies zu einer Zeit, als die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie und auch die Psychoanalyse anfingen zu existieren. Die Psychologie hat bewußt oder unbewußt immer etwas mit der Verwandlung der Menschen in Objekte der Macht, mit ihrer Verwandlung in die Ware Arbeitskraft, in Verwaltungsobjekte oder "Patientengut" zu tun. Sie hat mit der Verdinglichung von Menschen zu tun, die in modernen Militärmaschinerien schlimmste Gestalt annimmt. Sie kann aber auch zu einer Kritik an der Verdinglichung von Menschen dienen, indem sie hilft, dem Leiden der Menschen daran zur Sprache zu verhelfen und indem sie lebendigen Subjekten beisteht, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Die dominierende akademische Psychologie ist bewußtlos einer gesellschaftlichen Tendenz verfallen, die Menschen in Material verwandelt. Eine erneuerte andere Psychologie hätte den Menschen zu helfen, sich dieser Todeslogik zu widersetzen.

Kann die Psychoanalyse hierzu einen Beitrag leisten? Es geht im folgenden nicht darum herauszuarbeiten, daß die Psychoanalyse eine bereits vorhandene Alternative zur dominierenden akademischen Psychologie darstellt. Mein Interesse ist es vielmehr aufzuzeigen, daß die Psychoanalyse Potentiale in sich trägt, die eine noch hervorzubringende andere Psychologie für sich nutzen sollte. Es geht um den Hinweis auf in der Psychoanalyse enthaltene Möglichkeiten, an deren Freisetzung kritisches psychologisches Denken mitarbeiten kann. Auch die Psychoanalyse weist wesentliche theoretische Defizite auf, sie kann keineswegs allen wesentlichen psychologischen Problemen gerecht werden. Sie teilt zum Beispiel mit der etablierten Psychologie einen weitreichenden Mangel an historischem Bewußtsein; daß der Mensch ein geschichtlich gewordenes Wesen aufweist, wird von ihr kaum zureichend erfaßt. Was Arbeit, Praxis für die menschliche Subjektivität bedeutet, läßt sich nicht anhand einiger Freudzitate zu diesem Thema bewältigen. Daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, daß also Subjektivitätsformen durch gesellschaftliche Prozesse hervorgebracht werden, hat die Psychoanalyse ebenso wie die etablierte akademische Psychologie nicht angemessen zur Kenntnis genommen.

Um das kritische Potential der Psychoanalyse herauszuarbeiten, sollen im folgenden psychoanalytische Denkmuster solchen der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie gegenübergestellt werden. Psychoanalytische Erfahrungen und Denkmodelle sollen, um deren spezifischen Gehalt zu verdeutlichen, mit solchen konfrontiert werden, die bewußt oder unbewußt die experimentelle Psychologie prägen. Beide Positionen müssen hier thesenhaft und idealtypisch vereinfacht vorgeführt werden. Die Darstellung der experimentellen Psychologie lebt von dem bösen Blick, den sie verdient. Man kann ihr mangelnde Differenziertheit oder die Vernachlässigung von Widersprüchen vorwerfen. Das psychoanalytische Denken kommt hingegen besser weg als seine Anhänger es verdienen. Die Misere des Faches Psychologie hat sich in einem Ausmaß radikalisiert, daß ein goldener Mittelweg der Kritik mit Sicherheit der einzige ist, der nicht zur Erneuerung führt. Bei der Radikalität, mit der im Fach Psychologie das offene, unreglementierte Denken ausgetrieben wird, ist die Wahrheit bis auf weiteres nur noch in der Übertreibung zu finden.

Psychologie und wissenschaftliche Arbeitsteilung

Kritisches Denken verlangt es, Zusammenhänge zu erkennen. Es ist gegen fachidiotische Borniertheit gerichtet und wendet sich gegen akademische Fächeraufteilungen, die Gegenstandsbereiche willkürlich aufspalten. Eine übersteigerte wissenschaftliche Arbeitsteilung raubt psychologischem Denken seine Brisanz und sorgt dafür, daß die wesentlichen Probleme in den Räumen zwischen den Fächern angesiedelt sind, für die niemand zuständig ist. Die Elemente des Psychischen sind in ihrer Qualität durch ihre Wechselwirkung miteinander bestimmt. Sie erlangen ihre Bedeutung als Momente eines lebendigen psychischen Gesamtzusammenhangs, der wiederum auf umfassende soziale Strukturen bezogen ist. Eine Psychologie, die die Psyche willkürlich in Elemente zerlegt, die unabhängig voneinander untersucht werden, bis sie irgendwann einmal wieder zusammengesetzt werden sollen, kann deshalb keine richtige Einsicht in das Wesen der menschlichen Subjektivität zustande bringen. In den Naturwissenschaften setzt sich zunehmend die Einsicht durch, daß Teile der Natur nur als Elemente umfassender Zusammenhänge angemessen erfaßt werden können. Eine entsprechende Einsicht hat sich in der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie noch kaum Bahn gebrochen, sonst würde zum Beispiel nicht an der existierenden abstrusen Aufteilung ihrer Grundlagenfächer festgehalten. Diese Aufteilung, die in Deutschland nicht zufällig weitgehend unterm Faschismus bürokratisch festgeschrieben wurde, steht jedem wirklich kritischen Denken entgegen. Der Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeitsteilung kann Vorteile mit sich bringen, aber er wird fast immer auch mit einer Reduktion des Problembewußtseins erkauft. Kritisches Denken muß deshalb die wissenschaftliche Arbeitsteilung, um ihre Angemessenheit an die Qualität von Forschungsgegenständen zu überprüfen, stets von neuem in Frage stellen. Die Psychoanalyse vermag zu einer kritischen Erneuerung der Psychologie beizutragen, weil sie die institutionalisierten Fächergrenzen der Psychologie nicht akzeptiert, weil sie quer zu diesen angesiedelt ist. Dies erlaubt ihr, andere Problemhorizonte zu entwickeln als die etablierte positivistische Psychologie. Die bedeutenden Vertreter der Psychoanalyse haben sich einer beschränkenden wissenschaftlichen Arbeitsteilung immer, zumindest partiell, entzogen. Die Psychoanalyse kann helfen, deutlich zu machen, daß eine "künstliche" Aufspaltung des Denkens in den Dienst einer angstbestimmten Realitätsverleugnung treten kann. Sie hat sichtbar gemacht, daß die willkürliche Fragmentierung von Realitätsbezügen ein Abwehrmechanismus ist, der der Vermeidung der Auseinandersetzung mit bedrohlichen Realitäten dient. Mit Hilfe dieses Abwehrmechanismus werden miteinander verbundene Erfahrungen der Realität - um den Preis intellektueller Verblendung - so auseinandergerissen, daß sie keine ängstigenden Emotionen auslösen.

Psychologische Reflexionen wurden im Rahmen der europäischen Geistesgeschichte ursprünglich in Verbindung mit dem Mythos und religiösen Dogmen angestellt. Zum Beispiel hat die wissenschaftliche psychologische Selbstreflexion ihre Vorläuferin in der katholischen Beichte (siehe hierzu Foucault 1970). Danach wurde über psychologische Fragen in der Philosophie oder im Rahmen der Kultur- bzw. Gesellschaftskritik nachgedacht. Von Platon und Aristoteles bis zu Hegel, Marx, Nietzsche, Adorno oder Foucault reicht eine solche Tradition. Erst im letzten Jahrhundert wurde die Trennung zwischen wissenschaftlicher Psychologie und psychologischen Interpretationen im Rahmen der literarischen Produktion vollzogen (siehe hierzu Obermeit 1980) und die Trennung zwischen Psychologie und Psychiatrie institutionalisiert. Manches psychologische Problem, das heute im Horizont der Fachwissenschaft Psychologie behandelt wird, hat in einem früheren Interpretationshorizont eine ungleich qualifiziertere Bearbeitung erfahren. Zum Beispiel zeigen Hegels Reflexionen zur Wahrnehmungs- und Bewußtseinspsychologie, die er im Rahmen seines philosophischen Denkens anstellt, ein Problembewußtsein, hinter dem die modernen kognitiven Theorien weit zurückbleiben.

Die Psychoanalyse Freuds hat immer noch etwas mit dem zu tun, was andere psychologische Schulen glauben, mit Hilfe der wissenschaftlichen Arbeitsteilung hinter sich lassen zu müssen. Die Psychoanalyse hat eine Verbindung zum Mythos aufrechterhalten (siehe hierzu Vogt 1986). Mit seiner Hilfe, z.B. mit Hilfe des Ödipusmythos, versucht sie, psychische Grenzerfahrungen auszudrücken, denen Theoriesprachen nicht völlig gewachsen sein können. Ihre Religionskritik hat auf den unbewußten Gehalt des Glaubens hingewiesen. Zur philosophischen Reflexion hat die Psychoanalyse, im Gegensatz zur gängigen positivistischen Psychologie, ihre Beziehung nicht abgebrochen. Die Entdeckung des Unbewußten stellt, auch wenn Freud das nicht zureichend bewußt war, die Tradition der europäischen Bewußtseinsphilosophie in Frage. Die Psychoanalyse hat manchen modernen Ansatz des philosophischen Denkens beeinflußt, Adorno oder Lacan repräsentieren ein Philosophieren, das von psychoanalytischen Einsichten lebt. Auch mit der literarischen Produktion hat die Psychoanalyse eine Verwandtschaft aufrechterhalten. Freud wundert sich, daß seine Falldarstellungen sich wie Novellen lesen.

"Es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaft entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe" (Freud I 1947, 227).

Freud hat literarische Texte analysiert, seine Nachfolger haben Wesentliches zur Literaturinterpretation beigetragen. Auch zur kritischen Analyse kultureller und gesellschaftlicher Probleme hat die Psychoanalyse wichtige Beiträge geleistet. Obwohl die psychoanalytische Kulturtheorie häufig an psychologistischen Verkürzungen leidet, hat sie fruchtbare Verbindungen mit der Soziologie und der Kulturwissenschaft erlaubt. Die Psychoanalyse verbindet Psychiatrie und Psychologie, die Analyse des Psychopathologischen mit der Analyse des Normalen. Nach einer der zentralen Einsichten Freuds erlaubt allein das Verständnis von Pathologischem, Ausgegrenztem, Abweichendem die verborgenen Schattenseiten des Normalen aufzuhellen. Das Studium der Neurose, der Psychose, der Perversion oder krimineller Handlungen ist ihm zufolge eine notwendige Voraussetzung zur kritischen Einsicht in das, was als Normalität gilt.

Bezogen auf die Fächereinteilung der akademischen Psychologie ist die Psychoanalyse immer zugleich Persönlichkeitstheorie, allgemeine Psychologie, Sozialpsychologie und Entwicklungspsychologie in einem. Persönlichkeitsstrukturen haben für die Psychoanalyse immer etwas mit kognitiven Leistungen zu tun, sie erhalten ihre Antriebsenergien von Triebregungen, sie sind mit sozialen Prozessen in primären Bezugsgruppen verknüpft und entspringen der Bewältigung lebensgeschichtlich zu durchlaufender Entwicklungsphasen. Alle diese Aspekte sind im psychoanalytischen Denken unauflösbar miteinander verknüpft. Wer versucht, die Psychoanalyse gemäß der etablierten Fächergrenzen aufzuspalten, muß ihr Wesen verfehlen. Es geht bei einer Erneuerung der Psychologie nicht darum, darauf hinzuweisen, daß die Psychoanalyse Beiträge zu den wesentlichen etablierten Forschungsgebieten liefern kann, die endlich zur Kenntnis genommen werden sollten. Es geht vielmehr darum, mit Hilfe der Psychoanalyse Fächergrenzen niederzureißen, die dafür sorgen, daß Psychologen Theoriemonster produzieren, anstatt sich mit den Problemen wirklicher Menschen zu beschäftigen.

Zum Begriff der Erfahrung

Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie will gegen die wildgewordene Spekulation die Erfahrung hochhalten. Theoretische Konstruktionen sollen für sie nur Gültigkeit haben, wenn sie durch eine methodisch organisierte Erfahrung überprüft worden sind. In ihrer Praxis liquidiert diese Psychologie aber Entscheidendes von dem, was Erfahrung ausmacht. Sie bindet sie in der priviligierten experimentellen Forschung an den austauschbaren Beobachter und seinen unpersönlichen, standardisierten Kontrollblick. Erfahrung wird von dieser Psychologie als etwas interpretiert, was gültigen Charakter erlangen soll, indem von der individuellen Besonderheit abstrahiert wird, indem also die Beobachtenden auf ein abstrakt Allgemeines reduziert werden. Damit werden die wesentlichen Elemente diskriminiert, die lebendige Erfahrung ausmachen: die Fähigkeit zu lebensgeschichtlichen Erfahrungen ebenso wie die Fähigkeit zu spontanen Erfahrungen. Soziale Verhältnisse, die die Menschen in Menschenmaterial für soziale Institutionen verwandeln, zerstören die spontane, lebendige Erfahrungsfähigkeit und blockieren Reifungsprozesse, die auf dem gekonnten Umgang mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen basieren. Im Positivismus wird aus dieser Misere eine Tugend gemacht, indem Erfahrung technokratisch reduziert wird. Er liefert damit ein fragwürdiges Surrogat für wirkliche Erfahrung.

Genau genommen ist die experimentell organisierte Erfahrungsgewinnung sogar dem diametral entgegengesetzt, was wirkliche Erfahrung ausmachen sollte. Im Experiment wird nicht versucht, sich so offen auf die Realität einzulassen, daß sie einen wirken belehren kann. Es wird vielmehr ausprobiert, ob man Realität nach einer theoretischen Konstruktion willkürlich erzeugen ann. Ein gelungenes Experiment demonstriert, daß das Bemühen erfolgreich war, die Realität künstlich nach einem vorgegebenen theoretischen Modell hervorzubringen. Es demonstriert, daß der eigene Verstand mit Hilfe angewandter Methoden der Realität erfolgreich den Prozeß machen kann, indem er sie zur Unterwerfung unter seine Gesetze zwingt. Daß das Denken sich so offen und unvoreingenommen sozialen Erfahrungen aussetzt, daß es sich dadurch wirklich bereichern kann, ist nicht vorgesehen.

Demgegenüber hält die Psychoanalyse in einem Erfahrungsbegriff fest, der nicht derart kastriert ist. Psychoanalytische Empirie hat etwas mit der Aufarbeitung lebensgeschichtlicher Erfahrungen zu tun. Die wissenschaftlich organisierte Selbstreflexion ist für sie die Voraussetzung wesentlicher Erfahrungen. Die Psychoanalyse will zu Einsichten nicht durch die Abstraktion von der eigenen Subjektivität und der an sie gebundenen Erfahrungsfähigkeit gelangen, sondern durch deren möglichst reflektierten Einsatz. Die psychoanalytische Therapie hat mit dem Abbau von Abwehrmechanismen zu tun, der die Rekonstruktion bisher verdrängter lebensgeschichtlicher Szenen zuläßt. Die Konfrontation der lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Analytikers mit denen seiner Patienten kann ihr zufolge zur Einsicht in deren Gehalt führen und damit dem Patienten helfen, sich zu verstehen. Eine besondere Bedeutung hat für die Psychoanalyse die Fähigkeit, spontane Erfahrungen zu machen und auf sie einzugehen. Die "gleichschwebende" Aufmerksamkeit des Analytikers, ebenso wie die Einhaltung der "Grundregel" (2) beim Patienten, sollen verhindern, daß Erfahrungen vorschnell durch einen kontrollierenden Verstand eingeengt werden. Die spontanen Einfälle, die scheinbar nebensächliche Wahrnehmungen oder verbale Äußerungen auslösen, erlauben nach ihrer Einsicht oft den Zugang zu zentralen psychologischen Problemen. Die Fähigkeit, spontane Einfälle zu produzieren, könnte man sich z.B. auch beim Umgang mit vielen psychologischen Texten zunutze machen. Daß sie Langeweile und Müdigkeit hervorrufen, sagt häufig mehr über die in ihnen enthaltene Wahrheit aus als manche geschraubte wissenschaftliche Debatte. Die Abwehr, die sie auf diese Art trifft, lebt von einer latenten Aggressivität, über deren Berechtigung nachzudenken wäre.

Das ideale Forschungsinstrument ist für die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie das Experiment. Der Einsatz dieses Forschungsinstruments verleiht der Psychologie totalitäre Züge, auch wenn die Harmlosigkeit der Gegenstandsbereiche, auf die es angewandt wird, dies zumeist verschleiert. In die experimentelle Psychologie geht üblicherweise ein traditioneller naturwissenschaftlich orientierter Gesetzesbegriff ein, für den der Begriff der menschlichen Freiheit, ohne den jedes menschliche Zusammenleben in Barbarei versinken muß, keinen Sinn hat. Experimentelle Ergebnisse erscheinen umso zwingender, je totaler die Kontrolle über die Versuchspersonen während des Experiments ausfallen kann. Diesen kann niemals wirkliche Freiheit bei der Gestaltung von experimentellen Realitäten zugemessen werden. Freiheit darf sich allenfalls in der Auswahl einiger vorgegebener Alternativen erschöpfen. Zur experimentellen Situation gehört, daß es zweierlei Menschen gibt: den Forscher, der das Wissen monopolisiert und die Realität gestaltet, und die Versuchspersonen, die als Objekte von ihm manipuliert werden. Zum Experiment gehört, daß Versuchspersonen üblicherweise systematisch über das im unklaren gehalten werden, was mit ihnen untersucht wird. Es macht den totalitären Charakter der experimentellen Methode aus, daß die spezifisch menschliche Möglichkeit, die Realität mit Bewußtsein selbständig zu gestalten, in ihr normalerweise nur als etwas auftaucht, was dem Forschungsprozeß nicht angemessen ist. Die Menschen werden als Versuchspersonen zu Objekten verdinglicht, anstatt daß Kritik an der Verdinglichung des Humanen geübt wird.

Auch das um die Couch zentrierte psychoanalytische Setting, an das der wichtigste Teil der psychoanalytischen Erfahrung gebunden ist, trägt autoritäre Züge. Der Analytiker verfügt in seinem Rahmen über einen eindeutigen Wissensvorsprung. Der auf der Couch liegende Patient ist am Handeln gehindert, er soll "bloß" reden. Der Analytiker, der hinter der Couch sitzt, ist der Kontrolle durch die Wahrnehmung des Patienten entzogen. Die Grundregel, alles zu sagen, was einem einfällt, soll dazu dienen, einen kontrollierenden Verstand zumindest partiell außer Kraft zu setzen. Das Setting soll kindlich machende regressive Neigungen beim Patienten fördern. Es soll Übertragungen zum Analytiker aufbauen helfen, die mit schmerzlichen infantilen Abhängigkeiten einhergehen. Das autoritäre Potential des analytischen Settings zielt aber nicht, wie das des Experiments, darauf ab, Menschen zu bloßen Objekten zu verdinglichen, auf deren Kontrolle und Berechenbarkeit die Psychologie aus ist. Es kann vielmehr dem Verständnis innerer Abhängigkeiten dienen, und, indem sie abgebaut werden, Prozesse der Subjektwerdung begünstigen. Daß die Beziehung zum Analytiker infantile Abhängigkeiten hervorruft, erlaubt es zugleich, diese dem Patienten bewußt zu machen und dadurch nachträglich aufzubrechen. Eine gute Analyse hat nicht die Aufgabe einer autoritären Nacherziehung, sie soll vielmehr dabei helfen, Abwehrmechanismen aufzulösen, die die Einsicht des Subjekts in seine inneren Abhängigkeiten blockieren. Die autoritäre Bindung des Patienten, die mit dem Setting verknüpft ist, wird im Laufe eines gelingenden analytischen Prozesses immer mehr überwunden. Der Patient hat die Möglichkeit, sich immer mehr aus ihr herauszuarbeiten und damit mündiger zu werden. Die Empirie, die mit dem analytischen Setting verknüpft ist, bezieht sich somit auf gelingende oder mißlingende Emanzipationsprozesse. In der experimentellen Psychologie hat hingegen die Versuchsperson niemals die Möglichkeit, sich aus ihrem Objektstatus herauszuarbeiten. Die Erfahrung, die sie zu gewinnen erlaubt, hat mit Menschen zu tun, die Objekte autoritärer Lenkung bleiben. Daß freilich, wenn der Psychoanalytiker zum Guru wird, auch die Psychoanalyse die große Gefahr in sich trägt, autoritäre Abhängigkeiten zu konservieren, sollte nicht übersehen werden. Diese Gefahr verlangt die permanente Kritik und vor allem Selbstkritik aller, die mit psychoanalytischem Wissen umgehen.

Wenn Subjektivität, wie im Rahmen der Psychoanalyse, notwendigerweise in Erfahrungsprozessen wirksam wird, ist für die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie die objektive Erkenntnis hinfällig. Um dem Subjektivismus zu entkommen, den sie fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, schafft sie das menschliche Subjekt gleich ganz ab. Die Gefahr des Abgleitens in den Subjektivismus, der bloß subjektive Einschätzungen mit objektiv gesicherter Erkenntnis gleichsetzt, ist sicher für das psychoanalytische Denken gegeben. Es muß sich Gedanken darüber machen, wie es ihr entgegenwirken kann. Das bedeutet aber keineswegs, daß man dem Subjektivismus mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals entkommen kann. Dieses ist nämlich auf eine sehr strenge Art subjektivistisch, was bloß deshalb nicht auffällt, weil der Subjektivismus an der Universität kollektiviert ist. Die Methoden, die im Rahmen der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie objektive Erkenntnis garantieren sollen, entstammen willkürlichen Setzungen der Scientific Community. (Daß man hinter diesen Setzungen gesellschaftliche Strukturen ausmachen kann, soll bei dieser Feststellung vernachlässigt werden.) Die nomologisch orientierte Psychologie kann kaum präzise angeben, was die von ihr erzeugte künstliche Realität des Experiments mit der qualitativen Verfaßtheit von Alltagsrealitäten zu tun hat, mit denen Menschen in ihrer Lebenspraxis konfrontiert sind. Die Realität, die für diese Wissenschaft Geltung haben soll, wird von ihr letztlich aus ihren Methoden abgeleitet. Eine Psychologie, die sich derart willkürlich gegenüber der Realität verhält, die der Qualität ihrer Erkenntnisgegenstände so wenig gerecht werden kann, ist einem wildgewordenen Subjektivismus verfallen. Sie verwechselt objektive Erkenntnis, die daran gebunden ist, daß Denken den Qualitäten seiner Objekte gerecht wird, mit Veranstaltungen, die auf der willkürlichen Einigung darüber basieren, was Subjekte gemeinsam als Realität gelten lassen wollen. Daß mit einem neuerdings modisch werdenden Konstruktivismus ein derartiger Subjektivismus zur Tugend erklärt werden kann, macht ihn nicht harmloser.

Erkenntnis und Gefühl

Dem vorherrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal zufolge soll Erkenntnis emotionslos, also möglichst ohne Liebe und Haß und auch ohne Angst erfolgen. Gefühle sollen möglichst aus Forschungsprozessen ausgeschaltet werden. Mit den Menschen, die als Objekte der Analyse unterworfen werden, soll möglichst keine emotional getönte, spezifisch menschliche Beziehung eingegangen werden. Der affektlose Kontrollblick zeichnet den idealen Beobachter der experimentellen Psychologie aus. Die Psychoanalyse kann deutlich machen, daß Denken und Affekte niemals wirklich getrennt werden können. Wo sie im Bewußtsein voneinander abgespalten sind, gehen sie, so wurde von ihr gezeigt, eine unbewußte Beziehung zueinander ein. Das naturwissenschaftliche Erkenntnisideal, das sich emotionslos gibt, ist letztlich auf die Beherrschung von Menschen aus, indem es ihr Verhalten kontrollierbar und berechenbar zu machen sucht. Eine derartige Einstellung lebt notwendig von unterschwelliger Aggressivität, ebenso wie von der Angst, sich wirklich auf die Probleme von Menschen einzulassen. Die intellektuellen Verdinglichungen, mit denen diese Psychologie die Menschen überrollt, sind mit latenter Aggressivität verbunden. Das offenbart sich z.B. daran, daß es kaum eine Form des obszönen Sadismus gibt, den Psychologen in der Vergangenheit und Gegenwart nicht in Experimenten an Tieren exekutiert haben. Daß das selbst im Zeitalter der Ökologie von Psychologen noch nicht aufgearbeitet wurde, verweist auf ein mehr als prekäres Verhältnis zur Aggressivität.

Mit einem bösen psychoanalytischen Blick kann man die etablierte Psychologie als von unterschwelliger Angst bestimmtes Abwehrsystem gegen die Beschäftigung mit wesentlichen psychologischen Problemen bezeichnen, die notwendig mit zerstörerischer Triebhaftigkeit und dem Irrationalen der menschlichen Psyche zu tun haben. Die leeren theoretischen Abstraktionen, die in der Psychologie nur allzu verbreitet sind, haben etwas mit der Angst zu tun, sich auf bedrohliche psychologische Probleme einzulassen und sich der Abneigung zu stellen, die das Andere an fremden Menschen hervorruft (siehe hierzu Devereux 1973). Die Psychologie ist eine Hochburg der theoretisierenden Verwaltungsbeamten. Diese arbeiten ständig mit großem Aufwand an der Entwicklung von "Verwaltungsvorschriften" für das Denken, mit denen die Realität erfaßt werden soll. Aber die Anwendung dieser Vorschriften, in Gestalt von methodischen Verfahren und technischen Regeln, bringt meist kaum mehr als psychologische Mäuschen hervor. Sigmund Freud hat Menschen, die eine derartige Liebe für das Methodische haben, mit Menschen verglichen, die ständig die Brille putzen, anstatt durch sie die Realität zu betrachten. Es gehört Mut dazu, einen anderen Umgang mit den ängstigenden Problemen des Psychischen zu finden.

Die Psychoanalyse nimmt Gefühle sehr viel ernster als die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie. Sie bemüht sich darum, sie bewußt zu machen und der Bearbeitung durch das Ich zuzuführen. Das naturwissenschaftlich orientierte Denken ist auf Herrschaft über seine Objekte aus, demgegenüber kann die Psychoanalyse auf die Verwandtschaft von Liebe und Erkenntnis verweisen. In der platonischen Philosophie hat Denken etwas mit dem Eros zu tun, mit der Liebe zur Weisheit, zum Guten und Schönen. In der christlichen Tradition ist die Einsicht in die göttliche Wahrheit mit der Liebe von und zu Christus und der Nächstenliebe verknüpft. Die Psychoanalyse nimmt eine Tradition, die Liebe und Erkenntnis verknüpft, auf ganz andere Art wieder auf. Ihre Praxis hat gezeigt, daß psychologische Aufklärung und Liebe miteinander verwandt sind. Intellektuelle Hemmungen haben ihrer Einsicht nach etwas mit Hemmungen der Liebesfähigkeit zu tun, ebenso wie umgekehrt die Freisetzung von Liebesfähigkeit mit der Entwicklung intellektueller Möglichkeiten verbunden ist. In der Analyse zeigt sich, daß die Kraft, die es erlaubt, bisher verdrängte traumatische Erfahrungen bewußt zu bearbeiten, von positiven Übertragungen herrührt. Sie ist von Liebesbindungen zum Analytiker abhängig, die aus früheren Liebesbindungen hervorgehen. Nur die Übernahme von Kräften aus früheren Liebesbindungen erlaubt es, sich den schmerzlichen Geheimnissen der individuellen Geschichte bewußt zu stellen. Die Liebe verleiht die Kraft, die Wahrheit der eigenen Existenz auszuhalten, wie umgekehrt die Einsicht in den Sinn der Symptome, d. h. in bisher verdrängte Kapitel der individuellen Geschichte, die lebendige Liebesfähigkeit befreien kann.

Die Psychoanalyse kann nicht nur auf die Verbindung von Liebe und Erkenntnis, sondern auch auf die von Aggressivität, von Haß und Erkenntnis verweisen. Aus verdrängten Haßregungen kann nach ihren Einsichten die Realitätsblindheit folgen. Der gekonnte, bewußte Umgang mit Aggressivität ist demnach eine Voraussetzung für richtiges Denken. Aggressivität vermag die Wahrnehmung von Schlechtem zu konturieren: Man muß das Erbärmliche hassen können, um es zu begreifen. Sie erlaubt die Auflösung von infantilen Bindungen, wodurch Räume für ein anderes Denken geöffnet werden. Wer sich nicht auch aggressiv von der Autorität absetzen kann, bleibt emotional und damit auch intellektuell an sie gebunden. Die autoritäre Reglementierung psychologischer Studiengänge, die ein freies Denken und Handeln blockiert, lebt nicht zuletzt von unterschwelliger Aggressivität gegen Studierende und intellektuelle Abweichler. Diese Aggressivität ist hinter ritualisierter bürokratischer und methodischer Betriebsamkeit verborgen. Man muß nur den Versuch machen, sich dieser Betriebsamkeit zu verweigern, um ihren unverhüllten Ausdruck zu provozieren. Die offene Austragung von Konflikten, die Durchsetzung einer emanzipierten Streitkultur, die einen anderen Umgang mit Aggressivität erlaubt, ist eine Voraussetzung für eine Erneuerung der Psychologie.

Körper und Leib

Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie sieht den Menschen ebenso wie die Psychoanalyse als ein körperliches Wesen, das aufgrund seiner biologischen Anteile mit den Tieren verwandt ist. Beide sind gegen idealistische Konstruktionen, gegen eine geisteswissenschaftliche Psychologie gerichtet, die den Menschen einseitig durch sein Bewußtsein bestimmt sieht. (Nach der "kognitiven Wende" gilt diese Feststellung nur noch begrenzt. Daß die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie zugleich als vulgär-idealistisch bezeichnet werden kann, weil sie die Realität weitgehend aus Methoden, also aus intellektuellen Konstruktionen herleitet, gehört zu ihren Paradoxen.) In beiden Theorierichtungen wird aber die menschliche Körperlichkeit sehr unterschiedlich theoretisch erfaßt.

Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie glaubt, der menschlichen Naturhaftigkeit in Anlehnung an physiologische Konstruktionen aus der Medizin oder in Anlehnung an die Biologie gerecht werden zu können. Zu ihrer Analyse orientiert sie sich weitgehend an den Konstruktionen eines mechanischen Materialismus, die sie in Anlehnung an die traditionelle Mechanik oder an informationsverarbeitende Maschinen erfassen will. Mit derartigen theoretischen Modellen kann sie vielleicht manches erfassen, was man als Körper bezeichnet, sie muß aber an dem scheitern, was als Leib gelten sollte. Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie hat nicht nur die Seele, sondern auch den Leib abgeschafft. Schon vor 200 Jahren haben Theoretiker wie Schelling oder Diderot darauf hingewiesen, daß sich mit mechanischen Modellen lebendige Leiblichkeit nicht begreifen läßt. Nach Schelling wird in den experimentellen Naturwissenschaften das Lebendige verdinglicht, entlebendigt und, nachdem es abgetötet wurde, wieder vom Forschenden künstlich in Bewegung versetzt. In der experimentellen Situation wird das freie Spiel der Kräfte unterbunden. Elemente der Realität werden aus ihren lebendigen Zusammenhängen herausgerissen, um sie vom willkürlichen Einfluß der "unabhängigen Variablen" antreiben lassen zu können. Der Körper soll zu seiner Erforschung gewissermaßen wie eine Maschine in Teile zerlegt werden, die getrennt voneinander analysiert werden und die wieder zusammengesetzt sein Ganzes ergeben sollen. Für eine derartige Forschung muß man sich, bewußt oder unbewußt, an die Leiche fixieren. Die intellektuelle Zerlegung der Tiere macht sie in der Forschungspraxis zu Leichen. Psychologen, die mit Tieren experimentieren, zeigen sich in ihren Tierlabors als äußerst leistungsfähige Leichenproduzenten. Die Nähe zur Leiche ist auch in den naturwissenschaftlich orientierten Humanwissenschaften vorhanden. Michel Foucault (1973) hat in seinem Buch "Die Geburt der Klinik" aufgezeigt, daß die moderne Medizin, an die sich die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie anlehnt, an die Institution Krankenhaus gebunden ist, wo sie sich im Umgang mit der Leiche entwickelt hat.

Es gibt im Gegensatz dazu eine wissenschaftliche Tradition, die das, was lebendige Leiblichkeit ausmacht, zum Ausdruck bringt. Bei Nietzsche, der propagiert hat, daß der Psychologe vom Leibe her denken soll, in der philosophischen Anthropologie (z.B. Plessner oder zur Lippe), in der Phänomenologie (z. B. Merleau-Ponty) oder im Materialismus von Feuerbach und Marx wird Leiblichkeit, die etwas anderes ist als die Körperlichkeit, mit der die Naturwissenschaften zu tun haben, zum Gegenstand der Analyse gemacht. Leiblichkeit hat mit einer Art des In-der-Welt-Seins von menschlichen Subjekten zu tun, die über deren Körperlichkeit vermittelt ist. Sie hat etwas mit sinnlicher, gegenständlicher Praxis, also mit der körperlichen Arbeit von Subjekten zu tun. Sie hat etwas mit der Erfahrung der Sinnlichkeit beim Essen oder beim Geschlechtsverkehr zu tun. Sie ist mit dem Erleben von Begehren und Schmerz verbunden, das im naturwissenschaftlichen Denken keinen Platz hat. Ein lebendiges menschliches Subjekt kann sich von seinem leiblichen Begehren zum Genuß treiben lassen, oder es kann seinen Leib zum kunstvollen Instrument machen, mit dem es sich tätig mit der Welt auseinandersetzt. Davon weiß das naturwissenschaftliche Denken nichts. Es ratifiziert die Verdinglichungen, mit denen Menschen in der bestehenden Gesellschaft die lebendige Leiblichkeit ausgetrieben wird.

Auch die Psychoanalyse hat etwas mit einer sinnlichen materialistischen Tradition zu tun, die um den lebendigen Leib zentriert ist. In die psychoanalytische Theorie gehen zwar auch Elemente ein, die vom naturwissenschaftlichen Denken herkommen (Freuds triebökonomische Gleichgewichtsmodelle etwa stammen aus der Physik), aber der tote Körper der Naturwissenschaften kann in der Psychoanalyse zum Leben erwachen. Er wird zum sprechenden Leib, in den die Lebensgeschichte eingeschrieben ist, die sich bewußt oder unbewußt anderen mitteilt. Neurotische Symptome, in denen auf verhüllte Art die schmerzlichen Geheimnisse der individuellen Existenz zum Ausdruck kommen, sind etwa beim Hysteriker in den Körper eingeschrieben. "Das Ich ist vor allem ein körperliches", heißt es bei Freud (XIII 1977, 253). Die Erfahrung des Selbst ist also immer über die Erfahrung des eigenen Körpers vermittelt, die wiederum mitbestimmt, wie die äußere Realität erfahren wird. Die menschliche Subjektivität ist in der psychoanalytischen Theorie nicht, wie ihre Kritiker glauben machen, einer dumpfen, geschichtslosen Triebhaftigkeit verfallen. Der Trieb ist an Repräsentanzen, an Objektvorstellungen gebunden, die ihm immer auch einen sozialen Charakter verleihen. Der Triebbegriff vermittelt zwischen Biologischem und Sozialem. Im Horizont der strukturalistischen Psychoanalyseinterpretation muß die Psyche für den Leib, der Genuß verschaffen soll, einen "Sprachkörper" finden, der das Begehren ordnen kann. Das lebendige Materialistische der Psychoanalyse kommt darin zum Ausdruck, daß für sie alle "höheren" psychischen Leistungen mit elementaren körperlichen Verrichtungen verbunden sind. Die Psyche strukturiert sich bekanntlich der Psychoanalyse zufolge um die Oralität, die Analität und die Genitalität, die in bestimmten lebensgeschichtlichen Entwicklungsphasen durchlaufen werden. Wie jemand ißt und was Essen für ihn bedeutet, wie jemand auf dem Klo sitzt oder wie er seine Freundin beim Liebesspiel berührt, äußert sich in seinem Denken. Die Psychoanalyse hat aufgezeigt, daß psychische Strukturen besonders mit den Löchern im Körper zu tun haben. Lebensgeschichtliche Erfahrungen werden besonders um die psychischen Repräsentanzen von Körperöffnungen eingeschrieben. Die Löcher in den Nasen, in den Ohren, die Münder, die Löcher in den Ärschen oder zwischen den Beinen sind für das Leben der Psyche wesentlich. (3) Psychische Gesundheit bedeutet, daß die richtigen Löcher zur richtigen Zeit offen sind, daß sie nicht aufgrund neurotischer Hemmungen verschlossen sein müssen oder daß das Begehren auf falsche Art von einem Loch zu einem anderen verschoben ist. Durch die Körperöffnungen kann etwas aus dem Leib austreten oder etwas in den Leib aufgenommen werden, was die rigiden Ordnungen durcheinanderzubringen vermag, von denen die etablierte Wissenschaft lebt. Konfrontiert mit dem lebendigen Leib, mit dem es die Psychoanalyse zu tun hat, kann man die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie, die alles ihrer standardisierten, methodischen Kontrolle unterwerfen und dem Leib damit das Leben austreiben will, als Organisationsform der Verstopfung begreifen.

Wissenschaft und Geschlechterdifferenz

Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie negiert die Geschlechterdifferenz. Ihr entscheidendes Grundlagenfach, die allgemeine Psychologie, orientiert sich nicht nur an einem Theoriemonster ohne Geschichte und Gesellschaftlichkeit, sondern auch ohne Geschlecht. Die Geschlechterdifferenz wird allenfalls bürokratisch an die differentielle Psychologie delegiert, wo sie kaum eine Rolle spielt. Das psychologische Experiment verlangt den austauschbaren Beobachter, von dessen Geschlecht abstrahiert wird. Die verplante Forschung und Lehre blockiert, daß geschlechtsspezifische Erfahrungen in Theoriekonstruktionen eingehen oder zu ihnen in Beziehung gesetzt werden.

Demgegenüber hat die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung der Geschlechterdifferenz hingewiesen. Psychische Erwachsenheit, die mit Liebesfähigkeit und Arbeitsfähigkeit verknüpft ist, ist ihr zufolge mit dem Akzeptieren der grundlegenden Bedeutung der Geschlechterdifferenz verbunden. Psychische Störungen haben der Psychoanalyse zufolge immer etwas mit dem Scheitern an der Geschlechterdifferenz zu tun. Die Geschlechterdifferenz akzeptieren heißt zu akzeptieren, daß alle wesentlichen psychischen Leistungen durch diese Differenz mitbestimmt sind. Es bedeutet, das Wissen bewußt leben zu können, daß die Sexualität, die an die Differenz gebunden ist, uns lebt. (Das gilt auch für die Homosexualität. Sie lebt immer auch vom anderen Geschlecht, das sie ausschließt.) Daß dieses Postulat schwer einzuhalten ist, zeigt auch die Geschichte der Psychoanalyse. Freud, der es besonders energisch vertreten hat, zeigt bei der Analyse der weiblichen Sexualität die Tendenz, in einen phallischen sexuellen Monismus zurückzufallen. Wilhelm Reich, dem das Verdienst zukommt, Sexualität als Politikum erkannt zu haben, analysiert diese nahezu ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß es eine männliche und eine weibliche Sexualität gibt - eine bedeutende Abwehrleistung!

Der Umgang mit der Geschlechterdifferenz hat nach psychoanalytischer Einsicht paradigmatischen Charakter für den Umgang mit anderen Differenzen. Mit ihm verwandt fällt der Umgang mit dem Fremden, dem Anderen, dem Unbekannten aus. Daß das andere Geschlecht, aufgrund seiner anderen Leiblichkeit und seiner anderen, historisch entstandenen Erfahrungsfähigkeit, nie ganz zu verstehen ist, stellt die Psyche vor wesentliche Probleme. Die niemals gänzlich aufhebbare Fremdheit zwischen den Geschlechtern erzeugt Angst, die zur Abwehr führen kann, aber auch Raum für Wünsche, Sehnsüchte und Formen des Begehrens öffnet. Kindliche Intellektualität, also die ersten Formen "theoretischen" Denkens bei Kindern, entfaltet sich nach Freuds Einsicht beim Erkunden der Geschlechterdifferenz. Woher die Kinder kommen, wo die Mutter ihren Pimmel versteckt hat oder ob man kastriert werden kann, provoziert bei Kindern umfangreiches Nachdenken. Die frühe Verarbeitung des Umgangs mit der Geschlechterdifferenz wird später in den Umgang mit anderen Differenzen eingebracht. An die kindliche sexuelle Neugierde, die zu kindlichen "Sexualtheorien" führt, lehnen sich spätere Formen intellektueller Neugierde an. In psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppen kann man erkennen, daß erst dann, wenn die Geschlechterdifferenz thematisierbar wird, auch andere Differenzen zwischen den Gruppenmitgliedern oder Konflikte und Differenzen zwischen ihnen und der Autorität, die mit der Generationendifferenz zu tun haben, thematisierbar werden. Die individuelle Besonderheit anderer wird immer erst wirklich wahrgenommen, wenn die Geschlechterdifferenz ins Bewußtsein tritt.

Ein anderer Hinweis, der die These belegen kann, daß die Geschlechterdifferenz maßgebend für Differenzerfahrungen ist: Die psychoanalytisch orientierte Autoritarismusforschung der Frankfurter Schule (Adorno u.a. 1950) hat aufgezeigt, daß Frauenfeindlichkeit von Männern mit einem allgemeinen Ethnozentrismus verbunden ist. Frauenfeindlichkeit bei Männern verbindet sich also mit der Abwehr alles Fremden, Andersartigen, mit der Abwehr dessen, was nicht dem entspricht, was die Gruppe kennzeichnen soll, der man sich zurechnet.

Wo die Angst vor der Frau zu groß wird, muß alles Fremde abgewehrt werden. Es besteht das Bedürfnis, es Kontrollen zu unterwerfen, in starre Muster zu pressen, es auszugrenzen oder gar zu liquidieren. Es stellt sich die Frage, ob die repressive Gleichmacherei der etablierten männlichen Psychologie, die ständig darauf aus ist, die menschliche Besonderheit auf ein abstrakt Allgemeines zu reduzieren, das sich methodisch korrekt unter Kontrolle bringen läßt, nicht von einer unterschwelligen Angst vor der Geschlechterdifferenz lebt. Die menschenfeindlichen Züge der etablierten Psychologie hängen damit zusammen, daß sie alles ihren Regeln unterwerfen will, weil sie keine offenen Möglichkeiten dulden kann, in denen Neues, Anderes aufscheint. Es spricht einiges dafür, daß diese Züge mit der Frauenfeindlichkeit von Männern zu tun haben.

Bewußtes und Unbewußtes

Der von der positivistischen Psychologie geführte Kampf gegen den Subjektivismus mündet bei ihr in die Abschaffung des menschlichen Subjekts als Gegenstand der Theorie. Aus der Zusammensetzung der Elemente, in die sie die Psyche zerlegt, resultiert niemals das, was Subjektivität auszeichnet. Menschliche Subjektivität ist an einen lebendigen psychischen Gesamtprozeß und seine Beziehung zur gesellschaftlichen Realität gebunden, in dem Potenzen der Notwendigkeit und der Freiheit auf komplexe Art wirksam werden. Wenn von Menschen als Subjekten die Rede ist, tauchen Begriffe wie Freiheit, Selbstbewußtsein, Autonomie, Selbsttätigkeit oder Spontaneität auf - von solchen Begriffen hält die nomologische Psychologie nichts.

Auch die Psychoanalyse übt Kritik an den fragwürdigen Seiten eines überkommenen, idealistisch geprägten Subjektbegriffs, der davon ausgeht, daß der Mensch primär ein vernunftbegabtes Wesen ist, das allein durch seinen Intellekt seine Freiheit praktisch realisieren kann. Die Psychoanalyse weist darauf hin, wie innere Kräfte die Psyche unbewußt bestimmen und damit alle traditionellen Vorstellungen von einem autonomen Individuum in Frage stellen. Aber die Kritik, die die Psychoanalyse an einem Subjektbegriff übt, der das Ich und seine Vernunft zu sehr überhöht, führt nicht zur intellektuellen Liquidierung des Subjektbegriffs, sondern zu dessen Dezentrierung. Es gibt ihr zufolge in der Psyche auch andere Kraftzentren als das des Ichs, mit denen dieses zu stets prekären, konflikthaften Kompromissen gezwungen ist. Nach Freud besteht die Kränkung der "menschlichen Größensucht", die die Psychoanalyse mit sich bringt, darin, daß dem Ich nachgewiesen wird, "daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt, von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht" (Freud XIII, 1947, 295). Der Widerstand gegen die Psychoanalyse ist keineswegs nur intellektuell begründet, sondern lebt von der Schwierigkeit des Ichs, die ängstigende Erfahrung auszuhalten, "daß wir gelebt werden, von unbekannten unbeherrschbaren Mächten". Das Ich, das glaubt, die ganze Psyche völlig seinem kontrollierenden Bewußtsein unterwerfen zu können, ist einem fragwürdigen Allmachtswahn verfallen. Seine reale Autonomie kann allenfalls darin bestehen, diese Mächte möglichst weitgehend zu durchschauen und dadurch ein anderes Verhältnis zu ihnen zu gewinnen, das das Kraftfeld der Psyche zu seinen Gunsten verschiebt. Die Autonomie des Ichs, deren Entfaltung ein menschliches Subjekt auszeichnet, kann "nur" darin bestehen, die Grenzen des Bewußtseins gegenüber dem Unbewußten zu verschieben, um dadurch innere Realitäten besser mitgestalten zu können. Das Ich kann niemals wirklich Herr im Reich der Psyche sein, es kann allenfalls lernen, mit den Kräften, die auf es einwirken, halbwegs gangbare Kompromisse zustande zu bringen. "Ein Sprichwort warnt davor, gleichzeitig zwei Herren zu dienen. Das arme Ich hat es noch schwerer, es dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die Außenwelt, das Über-Ich und das Es" (Freud XIII, 1947, 251). Zu einem veränderten Autonomiebegriff gehört die Einsicht, daß das Ich lernen muß, die ängstigende Leistung zu vollbringen, das Gelebtwerden durch bewußte und unbewußte psychische Kräfte auszuhalten. Das Subjekt, das der Einbildung verfallen ist, die gesamte Psyche der kontrollierenden Regie seines Ichs unterwerfen zu können, wird von einer Zwangslogik regiert, die keine produktive Wechselwirkung zwischen Bewußtem und Unbewußtem zuläßt. Wer glaubt, frei zu sein, weil er sich einbildet, mit Hilfe seines Ichs Herr und Besitzer seiner selbst zu sein, hat nicht die Freiheit erlangt, sich auf gekonnte Art von seinem Begehren zum Genuß treiben zu lassen. Er hat nicht gelernt, ein lebendiges Spiel zwischen seinem Ich und seinem Es zuzulassen, das Liebesfähigkeit und nicht erstarrtes Tätigsein zuläßt. Die theoretische Vernunft muß sich darum bemühen, das präzise zu erfassen, was sich als Seele bezeichnen läßt. Aber zur Seele gehören nach der Einsicht der Psychoanalyse auch unbewußte Provinzen, die sich der präzisen Erfassung entziehen und auf deren Verfaßtheit es nur Hinweise gibt. Die damit der Aufklärung gezogene Grenze hat nicht nur Schattenseiten. Sie läßt der Produktion des Unbewußten Möglichkeiten offen, die neues und anderes mit sich bringen können, als man es erwartet.

Die positivistische Psychologie zeigt eine Abneigung gegen den Begriff des Unbewußten, auch wenn manche ihrer Vertreter zugestehen, daß nicht alle seelischen Prozesse bewußt ablaufen müssen (siehe hierzu Pongratz 1984). Mit experimentellen Untersuchungen will sie psychische Prozesse unter Kontrolle bringen, mit Hilfe von quantitativen Methoden will sie sie berechenbar machen. Da das Unbewußte, auf das die Psychoanalyse hinweist, sich diesem Erkenntnisinteresse der Tendenz nach sperrt, wird es von naturwissenschaftlich orientierten Psychologen gerne geleugnet. Einer Psychologie, die auf die Herrschaft über Psychisches aus ist, muß es als bedrohlich erscheinen, wenn es Psychisches gibt, das sich seinem Wesen nach dem Bemühen darum weitgehend entzieht. Dabei haben schon lange vor der Freudschen Entdeckung des Unbewußten viele prominente Denker darauf hingewiesen, daß psychische Prozesse entscheidend von unbewußten Kräften angetrieben werden. Goethe stellt fest, daß ein schöpferisches Unbewußtes jeder dichterischen Produktion zugrunde liegt. Er äußert sich in einem Brief an Schiller: "Ich glaube, daß alles, was das Genie tut, unbewußt geschehe" (Pongratz 1984, 198). Ähnlich äußert Jean Paul: "Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläst, ist gerade das Unbewußte" (Pongratz 1984, 198). Von Nietzsche stammt die Einsicht, wie problematisch es ist, das Denken schlicht einem Ich zuzurechnen: "Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Tatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, - nämlich, daß ein Gedanke kommt, wenn 'er' will, und nicht wenn 'ich' will; so daß es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt 'ich' ist die Bedingung des Prädikats 'denke'. Es denkt: aber daß dies 'es' gerade jenes alte berühmte 'Ich' sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine unmittelbare Gewißheit" (Nietzsche 1969, 26). Diese und viele andere Beobachter der Seele haben auf die Macht des Unbewußten hingewiesen, auch wenn sie es sicherlich nicht in der Art von Freud theoretisch erfaßt haben.

Die zahllosen, unendlich vielfältigen Niederschläge lebensgeschichtlicher Erfahrungen und die Triebschicksale, die mit ihnen verknüpft sind, kann das Bewußtsein niemals ganz erfassen. Sie leben uns auf eine Art, die niemals ganz vom Intellekt durchdrungen werden kann. Das Bewußtsein, das sich darum bemüht aufzuhellen, was die Psyche unterschwellig bestimmt, kann bei diesem Bemühen nie zu einem vollen Erfolg kommen. Eine erfolgreiche psychoanalytische Therapie, die das aufzudecken hilft, was das Subjekt unbewußt von einem erfüllteren Leben abhält, kann nur ein Auftakt für eine bis ans Lebensende dauernde unendliche Analyse sein. Psychoanalytische Aufklärung, die Licht in das bringt, was die Psyche unbewußt determiniert und damit dessen Machtbereich beschränkt, ist an einen unabschließbaren Prozeß gebunden. Die Einsicht in das, was die Psyche zum Gefängnis macht oder was Menschen, von blinden Zwängen getrieben, bestehenden Herrschaftsverhältnissen ausliefert, verlangt die unabschließbare Selbstkritik. Die nicht beendbare Arbeit am eigenen Selbst, die dessen dunkle Seiten ins Licht hebt, ist die Voraussetzung für das Verständnis der entscheidenden psychischen Mechanismen. Mit ihrer Abneigung gegen die Selbstreflexion, die sie als subjektivistische Machenschaft denunziert, bringt sich die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie um die wesentlichen psychologischen Einsichten. Ihre Interpretationsmuster und die Arbeits- und Verkehrsformen, mit der diese an der Universität verknüpft und, erlauben es nicht, sich bewußt dem Verdrängten zuzuwenden, dessen ewige Wiederkehr die kollektive innere Unfreiheit bedingt. Der Wissenschaftsbetrieb, den die naturwissenschaftlich orientierten Psychologen organisieren, blockiert die individuelle und kollektive Selbstreflexion, die es erlauben könnte, die Manifestationen des Unbewußten zur Kenntnis zu nehmen. Eine wissenschaftliche Zwangslogik, deren unbewußte Determinanten aufzuhellen wären, darf in der Universität ihr Spiel mit den Menschen treiben. Die wissenschaftlich Tätigen, die die Psyche ihrem kontrollierenden Bewußtsein unterwerfen wollen, werden unbewußt von fragwürdigen Signifikanten gelebt, die ihr Bewußtsein unterworfen haben.

Zur Bedeutung der Sprache und des Sprechens

Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie will exakte Wissenschaft sein. Ihr Ziel ist es, zu quantifizierbaren Aussagen zu gelangen, Worte sollen deshalb möglichst durch Zahlen ersetzt werden. Man will beobachtbare Fakten, die sich eindeutig zahlenmäßig erfassen lassen. Deren Findung wird durch den sprachlich vermittelten Austausch zwischen Menschen meist nur erschwert. In der experimentellen Forschungspraxis tauchen Menschen meist nur als zu untersuchende Objekte auf. Sie dürfen nicht als menschliche Subjekte erscheinen, die auf einen offenen sprachlichen Umgang angewiesen sind. Das Ziel der naturwissenschaftlich orientierten Vernunft ist die Beherrschung psychischer Realitäten. Es will sie mit Hilfe des Experiments kontrollierbar und mit Hilfe quantitativer Verfahren berechenbar machen.

Dem steht ein anderes Erkenntnisinteresse der Psychoanalyse gegenüber: sie will dazu beitragen, daß Menschen für ihre psychologischen Probleme einen möglichst angemessenen sprachlichen Ausdruck finden. Menschliches Leid, Hoffnungen, Ängste, Wünsche sollen der Stummheit entrissen werden, sie sollen ihre Sprache finden. Der Psychologe soll nicht versuchen, menschliche Einstellungen der Kontrolle zu unterwerfen, er soll vielmehr Subjekten helfen, eine angemessene Verbalisierung für ihre inneren Realitäten zu finden. Im Rahmen der Psychoanalyse hat eine Wiederentdeckung der Bedeutung des gesprochenen Wortes stattgefunden, die auch vom kritischen Denken in einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft kaum erfaßt wird. Die psychoanalytische Praxis hat ein wesentliches Medium: das Sprechen des Patienten und des Analytikers. Das analytische Setting eröffnet ein Feld des Sprechens, in dem vieles ausgesprochen und damit zum Bewußtsein gebracht werden kann, was sonst tabuisiert ist. Der Patient findet für vieles endlich einen Zuhörer; der Analytiker hat die Pflicht, alles ernst zu nehmen, was der Patient zum Ausdruck bringt. Das Setting begünstigt es, daß unbewußte Äußerungen leichter als sonst mitgeteilt und gehört werden können und damit der Bearbeitung durch das Ich zugänglich gemacht werden können. Eine frühe Patientin Freuds, die wichtiges zur Entwicklung der Psychoanalyse beigetragen hat, bezeichnete sie in seinem Sinn als "Talking Cure". Was die Patienten nicht nur mit ihren verbalen Äußerungen, sondern auch mit ihrem Verstummen oder ihrem Körper ausdrücken, zielt bewußt oder unbewußt auf Antworten, die die psychoanalytische Kur möglich machen. Die Psychoanalyse hat deutlich gemacht, daß Menschen von einer inneren Wahrheit, die sie nicht auszusprechen vermögen, zerstört werden können. Sie hat demonstriert, daß ein volles Sprechen innere seelische Verliese öffnen und die Wiederkehr des lebendigen Begehrens erlauben kann. Die Befreiung aus dem Teufelskreis der Neurose, die Transformation des Wünschens und den Zugang zu produktiverer Arbeit kann eine bestimmte Art des Sprechens ermöglichen - ein "Wunder" mit nahezu theologischen Dimensionen, dem sich selbst die psychoanalytische Theorie noch nicht wirklich gestellt hat. Dieses Wunder kann nur gelingen, weil die menschliche Psyche ihre Ordnung wesentlich durch die Sprache erhält. Durch das Aussprechen von Seelischem, das sonst kein Gehör findet, kann ein Kampf um die Anerkennung und Freisetzung des Begehrens stattfinden. Demgegenüber ratifiziert die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie das Verstummen, mit dem die Menschen trotz aller Beredsamkeit in der bestehenden Gesellschaft geschlagen sind.

Gesellschaftliche Macht äußert sich, wie Michel Foucault aufgezeigt hat, an der Universität, also auch in der Psychologie, in bestimmten Ordnungen des Diskurses (Foucault 1977). Die in der Psychologie herrschenden Ordnungen des Diskurses legen u.a. fest, was zum Thema des Sprechens werden darf und was nicht, sie bestimmen, wer etwas zu sagen hat und wer den Mund halten muß, sie normieren, auf welche Art etwas geäußert werden darf und wie etwas nicht geäußert werden darf. Solche wissenschaftlichen Einschluß- und Ausschlußregeln werden besonders in zwei Bereichen wirksam. Im Bereich des Triebhaften, Sexuellen, mit dem es die Psychoanalyse zu tun hat, und im Bereich des Politischen. Wer eine andere Universität mit demokratischeren Strukturen und anderen Formen des intellektuellen Suchens will, muß nicht zuletzt um soziale Räume kämpfen, die ein anderes Sprechen als bisher ermöglichen. Der Kampf um eine andere Psychologie lebt vom Mut, das zum Ausdruck zu bringen, was wissenschaftliche Konventionen mit Tabus versehen. Er geht nicht zuletzt um Räume des Sprechens, in denen die Sachen, über die gesprochen werden müßte, und die Interessen und Bedürfnisse aller Universitätsangehörigen mehr zu ihrem Recht kommen.

Zum Schluß, wie zu Beginn dieses Textes, ein Hinweis auf die Verbindung von Krieg und Psychologie. Die deutsche Geschichte ist nicht zuletzt eine Geschichte militärischer Katastrophen. Der militaristische Bezug zur Realität macht einen Teil der deutschen Misere aus. In der obersten Heeresleitung der deutschen Armee galt bis zum letzten Weltkrieg eine bestimmte Kommunikationsregel, die dem militaristischen Wahn entsprach. Berichte über das Kriegsgeschehen durften dort nur so gegeben werden, daß auf die Fragen des Oberbefehlshabers geantwortet wurde (Kluge 1964). Seine Fragen legten fest, was als Erfahrung Gültigkeit hatte und was als Realität erscheinen konnte. Die Perspektive der von zerstörerischer Macht leidvoll Betroffenen kam so kaum zur Geltung. Diese Katastrophenlogik ist leider keineswegs überholt. Sie bestimmt in anderer Gestalt auch noch heute Forschung und Lehre im Bereich der Psychologie. Es ist allerhöchste Zeit, daß auch im Bereich der Psychologie abgerüstet wird!


Anmerkungen

  1. Die in dem Text angedeutete Kritik an der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie wird in meinem Buch Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft - Psychologie im Universitätsbetrieb, Campus Verlag, Frankfurt/M., New York 1993, ausgiebig dargestellt.
  2. Die "Grundregel" verlangt vom Patienten auf der Couch, möglichst alles unzensiert zu äußern, was ihm einfällt.
  3. Man kann verschiedener Ansicht darüber sein, ob in einem wissenschaftlichen Text derartig drastische Formulierungen auftauchen dürfen. Ich wage sie, weil ich glaube, daß gegen eingeschliffene akademische Muster ab und zu provozierende Irritationen gesetzt werden sollten.

Literatur

  • Adorno, Theodor W. u. a. (1950): The Authoritarian Personality. New York
  • Devereux, Georges (1976): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Berlin: Ullstein
  • Foucault, Michel (1970): Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/M.: Suhrkamp
  • ders. (1973): Die Geburt der Klinik. München: Hanser
  • ders. (1977): Die Ordnung des Diskurses. Berlin: Ullstein
  • Freud, Sigmund (1947): Studien über Hysterie, GW I. Frankfurt/M.: S. Fischer
  • ders. (1947): Vorlesungen zur Einführung in der Psychoanalyse. GW XI. Frankfurt/M.: S. Fischer
  • ders. (1947): Das Ich und das Es. GW XIII. Frankfurt/M.: S. Fischer
  • ders. (1947): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV. Frankfurt/M.: S. Fischer
  • Kluge, Alexander (1964): Schlachtbeschreibung. Frankfurt/M.: Suhrkamp
  • Lacan, Jaques (1973): Schriften I. Weinheim, Berlin: Quadriga
  • Obermeit, Walter (1980): Das unsichtbare Ding, das Seele heißt. Frankfurt/M.: Syndikat
  • Pongratz, Ludwig J. (1984): Problemgeschichte der Psychologie. Bern, München: Francke
  • Nietzsche, Friedrich (1969): Jenseits von Gut und Böse. Werke III. München: Hanser
  • Vogt, Rolf (1986): Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung. Frankfurt/M.: Qumran