Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Zum Verhältnis von Allgemeinem und Differenz in der kritischen Gesellschaftstheorie

Vortragstext erschienen in: "WIDERSPRÜCHE - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- u. Sozialbereich" / Heft 50 / März 1994 / Verlag 2000 GmbH, Offenbach/Main
Zur Erinnerung an Niko Diemer

Zur Gedenkveranstaltung von Niko Diemer. Die Konfrontation mit seinem Tod weist uns darauf hin, daß die Lebenszeit aller Menschen beschränkt ist. Sie haben nur eine bestimmte Zeitspanne unter bestimmten historischen Konstellationen zu leben. Durch schicksalhafte Einbrüche kann diese Spanne, wie im Falle Niko Diemers, auf brutale Art verkürzt werden.

Die sozialistische Theorie behandelt den Tod kaum. Sie strebt eine bessere Zukunft mit "neuen Menschen" an; sie will, daß alles anders, besser wird. Die "alten Probleme", zu denen der Tod gehört, werden dadurch leicht verdrängt. Die Beschränkung der Lebenszeit durch den Tod hat auch Einfluß auf das theoretische Denken. Sie kann zu Größenphantasien führen, die auf ein Denken drängen, das während des eigenen Lebens alle großen sozialen Probleme lösen oder zumindest die entscheidenden Schritte hierzu in Gang bringen will. Das Marxsche Denken zum Beispiel ist hiervon nicht frei.

Die Begrenztheit der Lebenszeit kann auch die Resignation begünstigen. Wenn in diesem Leben nichts Besseres mehr zu erwarten ist, liegt es nahe, sich mit dem Bestehenden zu arrangieren. Eine begrenzte Lebenszeit unter schwierigen sozialen Verhältnissen prägt auch das Denken der Generation von Intellektuellen, zu der ich gehöre. Das Scheitern vieler Hoffnungen, die mit dem Sozialismus verbunden waren, die tiefe Krise der Linken, die technokratische Formierung der Universität, die das theoretische Denken zerstört geben Anlaß zu Resignation, zu pessimistischer Verdüsterung oder zu zynischem Opportunismus. Das lähmt das theoretische Denken. Ich will mit meinem Beitrag versuchen, dieser Lähmung entgegenzuwirken.

Über die Notwendigkeit der Kapitalismuskritik

Ein theoretisches Denken, das kapitalistisch geprägte Verhältnisse kritisiert und sich Gedanken über Alternativen zu einer vom Kapital geprägten Form der Vergesellschaft macht, hat zur Zeit keine Konjunktur. Dabei ist ein solches Denken nach wie vor dringend nötig. Im Weltmaßstab ist mit den Zwängen des kapitalistischen Weltmarktes das Elend der Dritten Welt verknüpft; die am Profil orientierte Wirtschaft greift in das Ökosystem Erde auf eine die Existenz der Menschheit bedrohende Art ein.

Es spricht wenig dafür, daß ein kapitalistisches Wirtschaftssystem in Osteuropa die anstehenden ökonomischen Probleme in absehbarer Zeit lösen kann. In den Zentren des Kapitalismus gibt es neuartige Formen der materiellen Verelendung in einer "Zweidrittelgesellschaft". Kein Anhänger des Bestehenden kann heute präzise angeben, wie eine zunehmende Massenarbeitslosigkeit verhindert werden kann. Mit Krisentendenzen der ökonomischen Basis gehen fatale kulturelle Tendenzen einher. Die kommerzialisierten Massenmedien lassen kaum die Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit zu, die die Gesellschaft zur Bewältigung anstehender Probleme benötigt.

Im Bereich der Kunst werden alle Aktivitäten zunehmend für die Warenwerbung funktionalisiert, was ihre kritische Substanz aushöhlt. Öffentliche kulturelle Aktivitäten sind in steigendem Maße kaum noch von der Firmenwerbung abzulösen: was man Firmensponsoring nennt, kennzeichnet verharmlosend einen Zustand, in dem die bürgerliche Gesellschaft durch den "Industriefeudalismus" abgelöst wird.

Die vom Kapitalismus geprägte Vergesellschaftung hat sicherlich die Fremdenfeindlichkeit nicht erfunden, aber ihre Erscheinungsformen sind in unseren Breiten durchaus mit ihr verwandt. Der Ausländer, der angeblich den Arbeitsplatz, die Wohnung oder die Frauen wegnimmt, hat den bedrohlichen Konkurrenten schlechthin zu symbolisieren; an ihm wird exekutiert, wie es um die Beziehungen der Menschen in der Konkurrenzgesellschaft bestellt ist.

Die Übermacht ökonomischer "Sachzwänge" bringt immer offensichtlicher eine Zersetzung des Politischen mit sich. Nicht nur die antikapitalistische Linke, die gesamten überkommenen politischen Strukturen scheinen Prozessen der Erosion ausgesetzt. Die Strukturen der Parteien oder die institutionalisierten Formen des staatlichen politischen Handelns bringen kaum noch die intellektuellen Kapazitäten und die Handlungspotentiale hervor, die notwendig sind, um die anstehenden sozialen Probleme zu lösen. Das in allen westlichen Gesellschaften üblich gewordene Schimpfen über "die Politiker" verdeckt eine tiefgreifende Krise der Strukturen des Politischen. Die im öffentlichen Bewußtsein verankerte fatale Gleichsetzung von Demokratie und "freier Marktwirtschaft" bringt im Falle von Krisen des kapitalistischen Systems nahezu automatisch totalitäre Bewegungen hervor.

In den osteuropäischen Gesellschaften hat die Struktur des "realsozialistischen" Herrschaftssystems es nicht erlaubt, notwendige gesellschaftliche Energien zur Lösung anstehender sozialer Probleme freizusetzen. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß in den westlichen Gesellschaften Entwicklungen mit ähnlichen Konsequenzen bevorstehen. Dem Umfang der anstehenden sozialen Probleme, die politisch zu lösen sind, entspricht keineswegs ein vorhandenes politisches Potential. Das produziert bei den Mitgliedern dieser Gesellschaften Erfahrungen der Ohnmacht, die zur Flucht in die Realitätsverleugnung oder in neue Formen des Irrationalismus führen. Als Konsequenz seiner Ohnmacht scheint theoretisches Denken, das die Aufgabe hat, bestehende soziale Verhältnisse zu kritisieren und sich über Alternativen zu diesen Gedanken zu machen, vor allem darum bemüht zu sein, die Kapitulation vor der Übermacht bestehender Verhältnisse zu rationalisieren.

Die tiefe Krise der Linken, die es mit sich bringt, daß der Kapitalismus trotz seiner Krisentendenzen als alternativlos erfahren wird, hat mit dem Scheitern des osteuropäischen Staatssozialismus zu tun. Die von der Rechten, die sich durch frühere Linke sehr verstärkt hat, im gängigen Bewußtsein verankerte Gleichsetzung dieses totalitären Herrschaftssystems mit dem Sozialismus bringt eine fatale Schwächung des demokratischen Potentials mit sich. Das Bemühen um Alternativen zum Bestehenden kann einer kollektivierten wahnhaften Dummheit zufolge nur im Totalitären enden.

Als eine Folge dieser Einstellung hat parallel zu einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit, die alles Abweichende diskriminieren will, auch eine Ausgrenzung sozialistischer Positionen aus theoretischen Diskursen stattgefunden. Ein verbreitetes Denken, daß alle Strömungen des Sozialismus dem Totalitären zurechnet, trägt selbst totalitäre Züge. Der Sozialismus hat nämlich nicht nur mit dem Stalinismus zu tun, sondern auch mit sozialdemokratischen Formen des Sozialismus, mit den Utopien der Frühsozialisten, mit dem Anarchismus oder den antiautoritären Sozialismusvorstellungen der 68er-Intellektuellenbewegungen. Zur sozialistischen Theorietradition gehören so sehr unterschiedliche Theoretiker wie Marx und Bakunin, Lenin und Rosa Luxemburg, August Bebel und Walter Benjamin.

Mit dem Sozialismus ist nicht nur ein totalitäres Potential verknüpft, sondern auch das demokratische Potential der westlichen Gesellschaften. Die demokratischen Grundrechte, als allgemeine Grundrechte, wurden in diesen Gesellschaften nicht zuletzt von einer sich als sozialistisch verstehenden Arbeiterbewegung durchgesetzt. In Deutschland z.B. hat vor allem die Arbeiterbewegung das allgemeine Wahlrecht, das Frauenstimmrecht und soziale Grundrechte in der Verfassung verankert. In der alten Bundesrepublik haben die sozialistisch ausgerichtete 68er-Studentenbewegung oder die ihr nachfolgenden stark antikapitalistischen Strömungen der Ökologie- und Frauenbewegung entscheidend zur Entwicklung eines demokratischen gesellschaftlichen Potentials beigetragen. Der Zerfall dieser Bewegungen ist nicht zufällig mit dem Ende ihrer antikapitalistischen Einstellungen verknüpft.

Der Sozialismus hat eine 200jährige Geschichte; er ist ein höchst komplexes und überaus widersprüchliches soziales Gebilde. Es gab in der Vergangenheit nie den Sozialismus im Singular und deswegen ist es auch unmöglich, Aussagen über die Zukunft des Sozialismus im Singular zu machen. Alle seine bisherigen Formen sind mehr oder weniger gescheitert, das mit ihnen verknüpfte theoretische Denken ist in eine schwere Krise geraten. Welche zu verwertenden Rohstoffe aus dem zu gewinnen sind, was die sozialistische Bewegung uns an Erfahrungen und Denkmöglichkeiten hinterlassen hat, ist heute nicht abschließend zu beantworten. Die Zukunft wird nach langwierigen Diskussionen hoffentlich noch produktive Antworten offen lassen.

Zur Theoriegeschichte des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem

In meinem tendenziell sozialpsychologisch und sozialphilosophisch ausgerichteten Vortrag will ich auf ein spezielles Problem der sozialistischen Theorie eingehen, auf das Niko Diemer in seinem Beitrag zur Zukunft des Sozialismus des öfteren hingewiesen hat, nämlich auf das Problem der Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem, auf die Beziehung von Gleichheit und Differenz. Die traditionellen Konzeptionen des Sozialismus haben, wie Niko Diemer zu recht feststellt, dieses Problem wenig berücksichtigt und damit die Vormachtstellung eines schlechten Allgemeinen zementieren geholfen. (1)

Mein Vortrag kann als relativ abstrakt, akademisch und unpolitisch erscheinen. Die Krise des linken theoretischen Denkens macht es aber nach meiner Ansicht notwendig, daß zentrale Begriffe der überkommenen kritischen Gesellschaftstheorie gründlich in Frage gestellt werden, wenn theoretische Interpretationshorizonte entwickelt werden sollen, die neuartige Formen der politischen Praxis begünstigen können.

Die Angst vor Fremdem in der bestehenden Gesellschaft äußert sich in gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit, ebenso wie in der Tabuisierung des Nachdenkens über Alternativen zur bestehenden Gesellschaft. Sie äußert sich aber auch im verbissenen Festhalten an traditionellen sozialistischen Positionen, das von der Angst bestimmt ist, sich neu auf veränderte soziale Realitäten einzulassen.

Im westlichen Sozialismus wird das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im Horizont der europäischen Aufklärung diskutiert. Die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem enthält dort auch die Frage nach dem, was ein Subjekt ist. Der Begriff des Subjekts bezeichnet die zentrale Schnittstelle zwischen Allgemeinem und Besonderem. Wer sich in im Horizont der europäischen Aufklärung über den Begriff des Subjekts Gedanken macht, stößt auf zwei zentrale Begriffe, mit denen er verbunden ist: auf den Begriff des autonomen Individuums und auf den Begriff der Menschheit, auf die Subjekte sich in ihrem Denken und Handeln als Weltbürger beziehen sollen.

Der Begriff des autonomen Individuums ist im aufklärerischen Denken mit Begriffen oder Parolen wie "Ausgang aus der Unmündigkeit" durch den Vernunftgebrauch, Selbstreflexion, selbsttätige Praxis, oder "freie Entfaltung der Persönlichkeit" verbunden. Die mit Hilfe von aufklärerischem Denken bewerkstelligten sozialen Veränderungen sollen freie, selbsttätige Subjekte hervorbringen. Jedes Mitglied der Gesellschaft soll in den Stand versetzt werden, sein Schicksal mit Hilfe seiner Vernunft selbst zu bestimmen. Durch kritisches Denken, das seine Praxis anleitet, soll es seine Autonomie erwerben können. Menschen sollen nicht nur als Mitglieder von sozialen Kollektiven Bedeutung erlangen, jedes Individuum soll vielmehr als einzelnes einen absoluten Wert erlangen. Der Dichter Heine bringt diesen Gedanken zum Ausdruck, wenn er bemerkt, daß mit jedem Individuum, das stirbt, eine Welt zugrunde geht. Die anzustrebenden autonomen Individuen sollen wegen ihrer Besonderheiten, ihrer Einmaligkeit, ihrer Unaustauschbarkeit respektiert werden.

Das aufklärerische Denken setzt den Begriff des autonomen Individuums, obwohl jedem oder jeder Einzelnen ein besonderer Wert zukommen soll, nicht absolut: Dieser Begriff hat seinen Gegenpol im Begriff der Menschheit, als deren Teil sich die Einzelnen interpretieren sollen. Alle Menschen sollen lernen, sich als Teil eines herzustellenden solidarischen Verbands freier Menschen zu verstehen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Ideale der französischen Revolution, sollen durch das vernunftgeleitete Zusammenwirken aller Menschen erreicht werden. Alle Menschen sollen lernen, als "Weltbürger" zu denken, zu fühlen und zu handeln. Ihre Erziehung soll, wie es bei Kant heißt, in "weltbürgerlicher Absicht" erfolgen. Holbach, ein führenden Vertreter der französischen Aufklärung formuliert:

"Die Menschheit ist ein Band, das unsichtbar den Bürger von Paris mit dem Bürger von Peking verbindet. Sie ist eine Übereinkunft, die gleichermaßen alle Mitglieder der großen Familie verpflichtet, in der die verschiedenen Völker der Erde nur die zerstreuten Individuen sind. Diese Übereinkunft ist das Unterpfand unserer Art, sie gibt jedem von uns das Recht, Gerechtigkeit, Mitleid und Wohltaten von jedem empfindenden Wesen zu verlangen gleich welchem Land, welcher Religion oder welchem Stande es entstammen mag. Krieg, Grausamkeit, Eroberungen, Intoleranz und Härte sind der Menschheit entgegengesetzt." (Systeme social, 1773)

Die Vernunft, die zumindest potentiell alle Menschen gemeinsam haben, soll ein Maß zur Verfügung stellen, an dem sich eine solidarische Praxis orientieren kann, die allen Menschen zu ihrem Lebensrecht verhilft. Das Vermögen, vernünftig zu denken, und die Arbeitsfähigkeit, die der Menschengattung eigentümlich ist, sollen nicht nur das eigene Wohl, sondern das Wohl Aller fördern.

Die Ideen des autonomen Individuums und der zu verwirklichenden Menschheit erscheinen als Pole in einem spannungsreichen Verhältnis. Beide Pole sollen im Denken und Handeln aufeinander bezogen werden, ihre Ansprüche sollen, soweit als möglich, miteinander versöhnt werden. Die Entfaltung der Persönlichkeit der Einzelnen soll mit der Übernahme von Verantwortung für das soziale Ganze verbunden sein. Das soll dadurch geschehen, daß die Einzelnen durch ihr Denken und Handeln auf jeweils besondere Art möglichst viel Welt in sich aufnehmen. Der Reichtum der Subjektivität der Einzelnen soll sich dem Reichtum ihrer Beziehungen und Verhältnisse verdanken. Nach Kants Konzeption ist jemand um so mehr Persönlichkeit, je mehr er die Idee der Menschheit in sich aufnimmt. Es gilt nicht einen bornierten Individualismus zu kultivieren, der die Differenz zu anderen absolut setzt, sondern Persönlichkeit dadurch zu entwickeln, daß sich Individuen, als Teil der Menschheit, an der Welt möglichst umfassend abarbeiten. Sie sollen sich denkend und handelnd, kämpfend und liebend an der Welt abarbeiten und sich dadurch selbst erzeugen. Im bürgerlichen Bildungsroman, der diesem Geist entspricht, etwa in Goethes "Wilhelm Meister" oder in Kellers "Grüner Heinrich", entfaltet sich das heranwachsende Subjekt, indem es reist, verschiedene Arbeiten ausführt, Liebesverhältnisse eingeht, sich an künstlerischer Produktion beteiligt oder in politischen Zusammenhängen aktiv wird. Es bildet sich, indem es die Realität so verarbeitet, daß es sie möglichst umfassend in sich aufnimmt. Bei Humboldt, einem der Stammväter der modernen deutschen Universität, heißt es deshalb:

"Einen Menschen beurteilen, heißt nichts anderes, als zu fragen, welchen Inhalt er der Form der Menschheit zu geben gewußt hat." (Über den Geist der Menschheit, 1804)

Die Entfaltung der Subjektivität beinhaltet Entfaltung der Individualität und der Weltbürgerlichkeit zugleich, Bildung des Besonderen und des Allgemeinen, die beide ein konflikthaftes aber produktives Verhältnis zueinander eingehen. Nochmals Humboldt: "Soviel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln ist in höherem Sinn des Wortes Leben" (Theorie der Bildung des Menschen, 1783).

Die Menschen sind, diesem Denken zufolge, immer zugleich etwas Allgemeines und etwas Besonderes. Die Versöhnung zwischen beiden ist in der Praxis der europäischen Kultur nicht gelungen. Gesellschaftliche Mißstände und das seelische Leiden unzähliger Einzelner haben nicht zuletzt darin ihre Ursache. In einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft, die von einer atomisierenden Konkurrenz und privaten Interessen beherrscht wird, gegen die eine repressive Staatsgewalt das allgemeine Interesse durchsetzen soll, kann eine Versöhnung zwischen Allgemeinem und Besonderem nicht zustande kommen. Daß Menschen einzelne und zugleich soziale Wesen sind, daß sie Individuen sind und zugleich Teile von sozialen Kollektiven, daß sie einmalig sind und zugleich Exemplare von Gattungen, bestimmt als Widerspruch ihre soziale Existenz. Wirklich bedeutsames sozialwissenschaftliches Denken hat sich an dem Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem, der in den Subjekten wirksam ist, abgearbeitet.

Das traditionelle bürgerliche Denken zeigt in diesem Konflikt üblicherweise die Tendenz, Partei für das Allgemeine zu ergreifen, auch wenn ihm das historische Verdienst zukommt, allen Menschen ein Recht auf Besonderheit zuzubilligen, das frühere Gesellschaften nicht kennen. In Rousseaus "Contract Social", dem Text, der die intellektuelle Vorbereitung der Französischen Revolution wesentlich beeinflußt hat, heißt es über einen Gesellschaftspakt, mit dessen Hilfe eine neue Gesellschaftsordnung herbeigeführt werden soll:

"Jeder von uns unterstellt der Gemeinschaft seine Person und alles was sein ist, unter der höchsten Leitung des Gemeinwillens; und wir als Körperschaft empfangen jedes Mitglied als vom Ganzen unabtrennbaren Teil. Im gleichen Augenblick erschafft dieser Akt der Vergesellschaftung - an Stelle der Einzelperson jedes Vertragschließenden - einen moralischen und kollektiven Körper, der sich aus ebenso vielen Mitgliedern zusammensetzt, wie die Versammlung Stimmen hat. Dieser erhält durch diesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen." (2)

Nach Rousseau soll sich also das individuelle Besondere im gesellschaftlich Allgemeinen auflösen, es soll als etwas tendenziell Sekundäres im Allgemeinen zum Verschwinden gebracht werden. Auch Kant, der führende philosophische Vertreter der deutschen Aufklärung, sieht die soziale Emanzipation an die Vorherrschaft des Allgemeinen gebunden. In der "Kritik der praktischen Vernunft" sucht er allgemein verbindliche Regeln des sozialen Handelns und gelangt dabei zum "kategorischen Imperativ", der gebietet, daß die Maximen, die das Handeln Einzelner lenken, zugleich als Maximen einer allgemeinen Gesetzgebung taugen sollen. Mit der menschlichen Sinnlichkeit verbundene individuelle Interessen und Bedürfnisse sollen aus der Vernunft abgeleiteten allgemeinen Gesetzen nachgeordnet werden. Individuelle Wünsche sollen allgemeinen Tugendregeln unterworfen werden, die mit Hilfe einer Vernunft, an der jedermann teilhaben kann, gefunden werden sollen.

Die Theorie des Sozialismus und vor allem dessen Praxis haben häufig eine repressive Gleichmacherei begünstigt, die vom Vorrang des Allgemeinen ausgeht, obwohl Marx, der Stammvater des wissenschaftlichen Sozialismus, sich gegen eine erpreßte Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem gewandt hat. Nach seiner Auffassung kann eine freie Gesellschaft nicht unter dem Vorrang des Allgemeinen zustande kommen. In ihr soll weder das Kollektiv den Einzelnen vorgeordnet werden, noch soll das allgemeine Interesse bornierten subjektiven Wünschen und Interessen geopfert werden. Die freie Entfaltung des Einzelnen soll vielmehr mit der freien Entfaltung Aller versöhnt werden. Allgemeines und Besonderes sollen gemeinsam zum Zuge kommen. An die Stelle der bisherigen Gesellschaften sollen Assoziationen treten, "worin die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung anderer ist" (Kommunistisches Manifest). Im krassen Gegensatz zur früheren "realsozialistischen" Praxis Osteuropas soll eine bessere Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen". (Kritik des Gothaer Programms)

Gegen ein Denken, das den Vorrang des Allgemeinen, des Sozialen, des Gesellschaftlichen propagiert, haben vor allem psychologisch inspirierte bürgerliche Intellektuelle Einspruch erhoben. Sie haben zugleich die Marxsche Utopie der Versöhnung von Individuum und Gesellschaft verworfen. Nietzsche hat, wie kaum ein anderer, das Recht des besonderen Individuums gegen die Ansprüche des gesellschaftlich Allgemeinen verteidigt. Er wettert gegen "Herdenmenschen", die sich allgemeinen Regeln unterwerfen; dem Gleichmachenden gilt seine Wut. Die Demokratie, der Sozialismus, die Frauenbewegung, alle Bewegungen, die auf mehr Gleichheit pochen, leben seiner Auffassung nach von der kollektiven lebensfeindlichen Wut auf die Entfaltung bedeutsamer Einzelner. Sein elitärer Blick hat vielen Reaktionären ins Konzept gepaßt; aber ihm kommt das Verdienst zu, die repressiven Aspekte von Einstellungen, die sich aufs Allgemeine berufen, deutlich gemacht zu haben. Nietzsche hat seine Position mit dem Weg in den Wahnsinn bezahlen müssen. Wo es nichts Allgemeines, für alle Gültiges mehr gibt, an das die Menschen sich halten können, können sie kaum Zugang zueinander finden und gemeinsam ihr Leben organisieren. Wo es nichts Gemeinsames gibt, das die Menschen verbindet, sind sie zu einer eisigen Einsamkeit verurteilt, an der sie zugrunde gehen müssen.

Auch Freud hat auf die Unversöhnlichkeit von allgemeinen Interessen und besonderen Wünschen hingewiesen. In seiner Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" hat er herauszuarbeiten versucht, daß jedes gesellschaftlich Allgemeine den Einzelnen notwendig Leid und Versagungen auferlegen muß. Individuelle Glücksansprüche müssen, seiner Analyse zufolge, geopfert werden, damit die Kultur ein allgemeines Überleben sichern kann. Die Kultur verlangt notwendig eine repressive kollektive Disziplin als Basis von gemeinsamen Arbeitsleistungen. Er konstatiert:

"Es ist unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, und wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat". (3)

Dieser für die Kultur notwendige Triebverzicht kommt für ihn zustande, "wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält". (4) Individuelles Begehren und Wünschen und allgemeine Überlebensinteressen müssen nach Freud notwendig unversöhnt bleiben. Das kritische bürgerliche Denken, das in seinen Anfängen auf die Notwendigkeit der Übermacht des Allgemeinen pocht, tendiert in seinen Spätformen dazu, das Recht der Einzelnen gegenüber der Gesellschaft einzuklagen oder die Opfer zu benennen, die das Allgemeine den Einzelnen abverlangt.

Zur praktischen Bedeutung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem

Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist keineswegs nur ein Problem für abstrakte sozialphilosophische Spekulationen. Eine kritische Sozialwissenschaft, die sich mit den wesentlichen Problemen wirklicher Menschen in alltäglichen Lebenszusammenhängen beschäftigt, ist ständig mit ihm konfrontiert. Überall, wo Gesellschaft zustande kommt, ist es präsent. Die Subjekte müssen in ihrer Psyche leidvoll die Widersprüche aushalten, die durch dieses Verhältnis hervorgerufen werden. Dies Spannungsverhältnis ist kaum, wie dies der junge Marx in seiner Utopie des Kommunismus hoffte, aufzuheben. Es kann "allenfalls" darum gehen, es mit mehr sozialer Vernunft so zu gestalten, daß es produktiver und mit weniger zerstörerischen Konsequenzen wirksam wird.

Menschen existieren einerseits als Elemente von Kollektiven, die gemeinsame Züge haben, andererseits sind sie Individuen mit unverwechselbaren Zügen. Sie sind zum Beispiel als Menschen Teil der Menschheit, als Arbeitskräfte Teil einer Belegschaft, als Schüler Teil einer Schülerschaft und zugleich unaustauschbare Individuen, die durch eine einmalige Lebensgeschichte geformt wurden. Sie haben zugleich eine soziale Identität, als Mitglieder sozialer Gruppen, und eine persönliche Identität, die sie mit niemandem teilen. Beide Identitäten existieren nicht nebeneinander, sondern sind spannungsgeladen miteinander verknüpft. Menschen müssen, um ihr Überleben zu ermöglichen, allgemein festgelegte Rollen "spielen", die ihnen soziale Institutionen auferlegen; aber sie können und müssen diese Rollen jeweils auf ihre besondere Art "spielen". In das Allgemeine, das die Gesellschaft von ihnen fordert, müssen sie ihre Besonderheit auf irgendeine Art einbringen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. Sie sind Kinder, Schüler, Studierende, Arbeiter, Frauen oder Männer und müssen diese allgemeine Rolle auf ihre besondere Art ausfüllen. Die Menschen müssen das Besondere, was sie aufgrund ihrer Lebensgeschichte geworden sind, auf irgendeine Art mit dem verbinden, was Menschen von bestehenden Verhältnissen abverlangt wird, wenn sie unter ihnen überleben wollen. Ihre persönliche Identität muß auf schwierige, leidvolle Art mit ihrer sozialen Identität verbunden werden. Das Besondere an ihnen kann sich nur im Rahmen von normierendem Allgemeinem halten.

Die Gesellschaft zerstört aber nicht nur Individualität, sondern sie erzeugt sie auch. Allgemeine gesellschaftliche Anforderungen können auch den Zwang setzen, die Individualität zu entwickeln. Als Kind unter Kindern, als Schüler unter Schülern, als Mann unter Männern oder als Wissenschaftler unter Wissenschaftlern findet man unter Umständen nur die Aufmerksamkeit, die man für seine Entwicklung braucht, wenn man allgemeine Ansprüche, die an einen gestellt werden, auf originelle, besondere Art erfüllen kann. Die Konkurrenz, der in der bestehenden Gesellschaft alle unterworfen sind, führt zur Gleichmacherei durch kollektiv wirksame ökonomische Zwänge, aber sie kann auch den Zwang zur Individualisierung setzen. Die Menschen sind als soziale Wesen nicht einerseits etwas Besonderes und andererseits etwas Allgemeines, beides ist miteinander vermittelt. Das Allgemeine, das sie sind, sind sie immer auf eine besondere Art und das Besondere, das sie sind, kann kaum mehr als die besondere Ausprägung von etwas Allgemeinem sein.

Jedes vernünftige politische Handeln ist auf ein stets prekäres Gleichgewicht angewiesen, das weder die individuelle Besonderheit seiner Träger noch das Allgemeine des sozialen Zusammenhangs sabotiert. Es ist auf stets konfliktträchtige Wechselwirkungen zwischen beiden angewiesen, die möglichst zugleich die Entfaltung der einzelnen und die Durchsetzung allgemeiner Interessen im Rahmen eines reichen Sozialen zulassen sollten. Kritisches politisches Denken in praktischer Absicht muß sich mit der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem stets von neuem auseinandersetzen. Es muß dazu Denkmöglichkeiten in sich aufheben, die die bürgerliche Aufklärung hervorgebracht hat. Zugleich muß es dieses überkommene Denken kritisieren und weitertreiben. Es muß auf Differenzen hinweisen, die ein derartiges Denken vernachlässigt. Es hat zum Beispiel Differenzen im Subjekt auf präzisere Art zur Kenntnis zu bringen.

Der Subjektbegriff, der mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verknüpft ist, ist so fragwürdig wie die Kultur, der er entspringt. Wie diese Form der Vergesellschaftung in ihn eingeht, muß durchschaut werden. Die Vorstellung vom autonomen Individuum ist historisch an den bürgerlichen Privateigentümer gebunden, die Weltbürgerlichkeit hat ihre soziale Basis in den universellen, normierenden Abhängigkeiten des Weltmarktes, der zum ersten Mal in der Geschichte eine Weltgesellschaft hervorbringt. Das bürgerliche Subjekt will nicht um die Kontrolle über sein Eigentum, es will auch Herr und Besitzer seiner selbst sein. Es will mit Hilfe seines Verstandes nicht nur die Kontrolle über die äußere Realität erlangen, sondern auch über sich selbst. Autonomie ist für das bürgerliche Subjekt vor allem mit der Herrschaft und Verfügung des Ichs über die äußere und innere Realität verknüpft. Ein freieres Subjekt muß den damit verknüpften Allmachtswahn, der es in Unfreiheit hält, durchschauen. Es muß akzeptieren, daß es andere Kraftzentren als das Ich und seine Vernunft in der Psyche gibt.

Ein dezentrierter Subjektbegriff muß die komplizierten Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele, Vernunft und Begehren, Denken und Fühlen, Bewußtem und Unbewußtem zur Kenntnis nehmen. Er erlaubt es, ein zwangsneurotisch aufgeladenes Ich zu kritisieren, das alles seinen normierenden Zwangsgesetzen unterwerfen will. Mehr menschliche Freiheit verlangt keineswegs nur, daß man mit Hilfe eines steuernden Ichs seine Praxis organisieren kann, sie schließt auch ein, sich von seinem Begehren treibenlassen zu können. Sie verlangt, eine Triebhaftigkeit zulassen zu können, die zum Genuß treibt, und dies gilt keineswegs nur für den Bereich der Konsumtion. Sie verlangt nicht nur mehr Intellektualität und Arbeitsfähigkeit, sondern auch eine andere Art des Wünschens, die das Denken und Handeln ergreift. Sie ist an ein anderes Fühlen, ein anderes Lieben und an ein anderes Hassen gebunden. Dazu müssen äußere und innere Abhängigkeiten aufgebrochen werden, die mit bewußten und unbewußten Ängsten verknüpft sind.

Individuelle Autonomie verlangt paradoxerweise nicht nur einen größeren Einfluß des Bewußtseins, sondern auch das Akzeptieren des Unbewußten, das sich dem Bewußtsein entzieht. Freuds bahnbrechende Einsicht, daß wir von unbewußten Kräften in uns gelebt werden, stellt eine Kränkung des Ichs dar, die ausgehalten werden muß. Die unendlich vielfältigen und oft widersprüchlichen Niederschläge lebensgeschichtlicher Erfahrungen in unserer Psyche sind vom Bewußtsein niemals vollständig zu durchschauen. Die unendliche Zahl von Signifikanten, die sich in unsere Psyche eingeschrieben haben, ist zu potentiell unendlich vielen Kombinationen fähig, die uns leben. Je freier und je weniger neurotisch ein Mensch ist, desto mehr Möglichkeiten und Widersprüchlichkeiten kann er an sich aushalten. Es gilt zu dieser Manigfaltigkeit von Potentialitäten, die etwas mit uns machen können, ein kluges, vernünftiges, aufgeklärtes Verhältnis zu finden. Ein emanzipiertes Subjekt muß nicht zuletzt ein produktives Verhältnis zu den Möglichkeiten seines Unbewußten erlangen.

Auch die Menschheitsvorstellungen der europäischen Aufklärung zeigen problematische Züge. Ihre Vorstellung von Weltbürgerlichkeit zeigt üblicherweise eurozentristische Züge. Sie will den Vernunftprinzipien und Rationalitätskriterien, die mit der westlichen Form der Vergesellschaftung verbunden sind, universelle Geltung verschaffen. Wir sollten akzeptieren, daß die Geschichte im Weltmaßstab auch andere kulturelle Möglichkeiten entwickelt hat, mit denen produktive Wechselwirkungen möglich sind. Es gilt, an uns selbst und in der äußeren Realität auch das Andere, das Fremde, das Unbekannte zu entdecken und zu akzeptieren, wenn wir lebendigere und reichere Subjekte sein wollen. Bevor wir klüger für eine bessere Welt eintreten können, muß uns die äußere Realität und unser Selbst fremder werden.

Differenzerfahrung und Geschlechterverhältnis

Der Hauptstrom der sozialistischen Theorie und Praxis tendiert dazu, Differenzen und Besonderheiten zu negieren. Er begünstigt fragwürdige Formen der Gleichmacherei, die verhindern, daß Allgemeines und Besonderes eine produktive Wechselwirkung entfalten können. Ein möglichst reiches Allgemeines, das vielfältig und unterschiedlich zum Ausdruck kommt, wird häufig einem leeren unpersönlichen Allgemeinen geopfert. Diese Disposition hat soziale Ursachen, die hier nur formelhaft angedeutet werden können.

Alle Formen des Denkens in der bürgerlichen Gesellschaft, zu denen auch das sozialistische Denken zu weiten Teilen gehört, haben eine Prägung durch die ökonomische Logik des Kapitalverhältnisses erhalten, das diese Gesellschaft weitgehend regiert. Die gesellschaftliche Dominanz einer abstrakten, unpersönlichen wirtschaftlichen Rechenhaftigkeit begünstigt eine generelle Neigung zum Identitätsdenken, aus dem die Differenz getilgt ist. Wo das Geld, als unpersönliches, quantifizierendes Medium, die entscheidenden sozialen Zusammenhänge stiftet, tendiert auch das theoretische Denken dazu, unpersönlich und abstrakt zu werden. Die überkommene sozialistische Theorie ist ihrem Wesen nach die Theorie der traditionellen Arbeiterbewegung. Sie bezieht sich auf eine durch die Gewalt der großen Industrie und eine bestimmte Klassenlage gleichgemachte Arbeiterklasse, deren Politik auf Formen der Solidarität aus ist, die leicht von den unterdrückenden gleichmachenden Mächten infiziert wird, die sie bekämpft.

Die staatssozialistischen Konzepte der Sozialdemokratie oder des osteuropäischen Sozialismus zeigen eine Nähe zu bürokratischem staatlichem Handeln. Die unpersönliche Logik des Handelns von Staatsbürokratien begünstigt ein unpersönliches bürokratisches Denken von Funktionären. Der osteuropäische Sozialismus ging nicht, wie das Marx vorgesehen hatte, aus einer entwickelten bürgerlichen Gesellschaft hervor. Damit kann in ihm nicht der Individualismus, den die bürgerliche Kultur hervorgebracht hat, seinen Niederschlag finden. Die von der bürgerlichen Aufklärung hervorgebrachten Bewußtseinsformen, die das Nachdenken über die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem möglich gemacht haben, können von einem Massenbewußtsein kaum genutzt werden, das nicht durch eine bürgerliche Epoche hindurchgegangen ist.

Die Einstellung zu Differenzen, zu Unterschieden ist nicht zuletzt entscheidend abhängig von der Beziehung zur Geschlechterdifferenz. (5) Sie ist auf der sozialpsychologischen Ebene mit dem Verhältnis zur Sexualität verwandt, die um die Differenz zwischen Mann und Frau zentriert ist. Das traditionelle bürgerliche Denken zeigt die Tendenz, individuelle Autonomie und Weltbürgerlichkeit nur einem vernunftbegabten Männlichen zuzubilligen. Seine Vernunftgläubigkeit ist mit der Neigung verknüpft, das Nicht-Vernünftige - zum Beispiel das Natürliche oder das Gefühlsbetonte - zu diskriminieren und dem Weiblichen zuzurechnen. Wo die Subjektivität und die Lebenswelt nicht entscheidend als durch das Geschlechterverhältnis bestimmt erscheinen, tendiert das Denken dazu, Differenzen im Allgemeinen zu negieren. Den traditionellen Schriften des Sozialismus zur "Frauenfrage ", etwa von Engels, Bebel oder Klara Zetkin ging es mehr um die Gleichstellung von Männern und Frauen als um einen anderen Umgang mit der Differenz der Geschlechter. Noch die 68er-Intellektuellenbewegung zeigt wenig theoretisches Interessen für die an Differenz gebundene Geschlechtlichkeit. Sie wollte die sexuelle Emanzipation mit Hilfe der Schriften Wilhelm Reichs zustande bringen, einem Theoretiker, bei dem es nur Sexualität im Allgemeinen, nicht aber weibliche und männliche Sexualität gibt, die durch das Wirken der Geschlechterdifferenz in und zwischen Frauen und Männern bestimmt ist.

Der Umgang mit der Geschlechterdifferenz hat große Bedeutung für einen allgemeinen Umgang mit Differenzen. Wie mit der Andersartigkeit des anderen Geschlechts umgegangen wird, bestimmt entscheidend mit, ob Differenzen als Bedrohung oder als Bereicherung erfahren werden können. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen können nur gelingen, wenn die Andersartigkeit als positive Möglichkeit erfahren werden kann. Nur wenn das Bewußtsein es zu dulden vermag, daß das andere Geschlecht nie ganz zu verstehen ist, kann die Differenz in der Psyche ihre produktiven Potenzen entfalten.

Männer und Frauen haben verschiedene Leiber; beide Geschlechter haben eine verschiedene Geschichte hinter sich. Eine andersartige Erziehung führt zu andersartigen Formen des Wünschens. Aufgrund einer unterschiedlichen psychischen Verfaßtheit von Männern und Frauen, die auch im Unbewußten wirkt, müssen sich weibliches und männliches sexuelles Begehren meist auf irgendeine Art verfehlen. Man kann die Liebe als Mißverständnis bezeichnen. Jedes Geschlecht, "spricht" sozusagen mit dem anderen von einem anderen seelischen "Ort" aus. Trotz aller Verständigungsmöglichkeiten führt eine mit der Geschlechterdifferenz verbundene Fremdheit stets von neuem zu Ängsten und Verunsicherungen. Dies kann zu Versuchen der Leugnung oder zur reglementierenden Festschreibungen des Unterschiedes führen, die Männliches und Weibliches als eindeutige Substanzen zu fassen suchen. Die unaufhebbare und nie ganz präzise faßbare Differenz kann aber auch Raum für Wünsche und Sehnsüchte öffnen; an ihr kann sich eine Phantasie entzünden, die für das erotische Spiel notwendig ist.

Wie eng die Erfahrung der Differenzen mit der Verarbeitung der an die Differenz gebundenen Geschlechtlichkeit verknüpft ist, läßt sich mit Hilfe der psychoanalytischen Aufklärung deutlich machen. Was die Geschlechterdifferenz mit den Menschen macht oder was sie mit ihr machen, geht entscheidend in ihre Denkformen ein. Die intellektuelle Neugierde und die soziale Phantasie werden vom Umgang mit der Geschlechterdifferenz stark beeinflußt. Nach psychoanalytischen Einsichten werden schon Erfahrungen, die Kinder beim frühen Kennenlernen der an die Differenz gebundenen Geschlechtlichkeit machen, im Bewußten und Unbewußten verankert und bestimmen so später den Realitätsbezug wesentlich mit. Die intellektuelle Neugierde ist Freud zufolge eng mit der sexuellen Neugierde des Kindes verknüpft.

"Um dieselbe Zeit, da das Sexualleben des Kindes seine erste Blüte erreicht, vom dritten bis zu fünften Jahr, stellen sich bei ihm auch die Anfänge jener Tätigkeit ein, die man dem Wiß- oder Forschertrieb zuschreibt. Der Wißtrieb kann weder zu den elementaren Triebkomponenten gerechnet noch ausschließlich der Sexualität untergeordnet werden. Sein Tun entspricht einerseits einer sublimierten Weise der Bemächtigung, andererseits arbeitet er mit der Energie der Schaulust. Seine Beziehungen zum Sexualleben sind aber besonders bedeutsame, denn wir haben aus der Psychoanalyse erfahren, daß der Wißtrieb der Kinder unvermutet früh und in unerwartet intensiver Weise von den sexuellen Problemen angezogen, ja vielleicht erst durch sie geweckt wird." (6)

Das erste "theoretische" Interesse des Kindes erwacht nach Freuds Erkenntnissen mit der Entwicklung von infantilen "Sexualtheorien". Das Interesse zu erfahren, woher die Kinder kommen, warum weibliche Wesen keinen Penis haben, ob man kastriert werden kann oder was die Eltern beim Geschlechtsverkehr miteinander machen, provoziert das Kind zu frühen intellektuellen Leistungen. Alle diese Fragen zwingen das Kind zu Auseinandersetzungen mit der Differenz zwischen Frauen und Männern. Nach Freud besteht die Gefahr, daß die Erkundungen des Kindes in einem von Angst bestimmten Verzicht enden, der "nicht selten eine dauernde Schädigung des Wißtriebes zurückläßt." (7) Die frühen Denkleistungen mit ihrer eigentümlichen, für Erwachsene oft befremdlichen Logik gehen in späteres intellektuelles Bemühen ein. Die oft schmerzlichen Anstrengungen des frühen Akzeptierens der Differenz zwischen den Geschlechtern legen es mit fest, ob später andere Differenzen akzeptiert werden können. Das kindliche Ringen um die Überwindung der Angst vor der Andersartigkeit des anderen Geschlechts erleichtert später die Überwindung der Angst vor dem Fremden, vor allem, was nicht ist, wie man selbst. Fällt aber diese Angst zu massiv aus, so leitet sie Verdrängungsprozesse ein, die zur Abwehr all dessen führen, was nicht der Vorstellung vom eigenen Selbst gleicht.

Der von der Psychoanalyse konstatierte Zusammenhang zwischen dem Umgang mit der Geschlechterdifferenz und dem Umgang mit anderen Differenzen läßt sich empirisch belegen. In psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppen, in denen sich Gruppenprozesse ohne thematische Vorgaben entfalten können, zeigt sich, daß erst die produktive Bearbeitung der Geschlechterdifferenz soziale Beziehungen zuläßt, die es erlauben, individuelle Differenzen verschiedenster Art positiv zu würdigen. Wenn hingegen die Angst vor dem Auftauchen der Geschlechterdifferenz in der Gruppe zu groß bleibt, können individuelle Unterschiede zwischen den Gruppenteilnehmern kaum positiv besetzt werden und ihre sozialen Beziehungen zeigen wenig individuierte Züge. Die Wahrnehmung von individuellen Besonderheiten gewinnt sprunghaft an Bedeutung, sobald die Geschlechterdifferenz thematisierbar wird. Wenn nach konflikthaften Auseinandersetzungen in Gruppenprozessen das "ödipale Niveau" erreicht wird, können mit dem Unterschied der Geschlechter zugleich auch die Unterschiede zwischen den Gruppenteilnehmern und der Autorität, die der Gruppenleiter repräsentiert, anders erfahren werden. Die Erfahrung des Unterschieds der Geschlechter ist demnach mit der Erfahrung des Unterschieds der Generationen verbunden.

Auch die psychoanalytisch orientierte Autoritarismusforschung der "Frankfurter Schule" zeigt einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit der Geschlechterdifferenz und einem allgemeinen Umgang mit Differenzen. Die Neigung zur totalitären Gleichmacherei geht, wie ihre Ergebnisse zeigen, mit einem gestörten Verhältnis zur Geschlechtlichkeit einher, die kein emanzipiertes Verhältnis zu der mit ihr verknüpften Differenz zwischen Männlichem und Weiblichem zu finden erlaubt. Eine unterschwellig stark angstbesetzte Frauenfeindlichkeit ist bei männlichen "autoritätsgebundenen Charakteren" mit "ethnozentristischen" Einstellungen verknüpft. Die Ablehnung der Weiblichkeit bei Männern, nicht zuletzt auch die Ablehnung der weiblichen Anteile der eigenen Person, verbindet sich mit der Abwehr alles Fremden, Unbekannten, Abweichenden an anderen Menschen. Dort, wo Frauenfeindlichkeit auftritt, werden üblicherweise auch Juden, Ausländer, Homosexuelle oder linke Minderheiten diskriminiert. Die Beziehung des Mannes zur Frau bestimmt entscheidend die Beziehung zu allem, was nicht dem entspricht, was die Angehörigen der Gruppe auszeichnen soll, der man sich zurechnet. Das gilt umgekehrt auch für die Beziehung der Frau zum Manne.

Nach den Befunden der Autoritarismusforschung hat die Abwehr der an die Differenz gebundenen Geschlechtlichkeit weitreichende Folgen für soziale Beziehungen. Sie verfallen einer "eigentümlichen Abstraktheit und Verhärtung" (8), die dem Lebendigen feindlich gegenübersteht. Dort, wo das offene Spiel der Geschlechterdifferenz abgewehrt werden muß, macht sich eine Ordnungswut breit, die alles Unterschiedliche, Vielschichtige, Unreglementierte zum Verschwinden bringen will. Die Beziehungen zu anderen Menschen müssen in starre Muster gepreßt werden, und diese sollen als Exemplare von Gattungen eindeutig zuordenbar sein. Differenzen, die nicht lebendig gelebt werden können, müssen negiert oder in starre Muster gepreßt werden. Die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit müssen klischeehaft starr zugerichtet werden. Für Männer sollen Frauen zu ihren Geschöpfen werden, damit sie in ihrer bedrohlichen Andersartigkeit beherrschbar erscheinen können. Wo die Angst vor dem offenen Spiel erotischer Differenzen regiert, darf es nichts Neues, Anderes, Unbekanntes geben. Jede grundlegende Veränderung der bestehenden Ordnung erscheint als extrem bedrohlich.

Die Sprache als Medium der Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem

Eine Beziehung von Allgemeinem und Besonderem, die beide bereichern kann, ist auf eine zwar konflikthafte aber zugleich auch produktive Verbindung dieser Pole des Sozialen mit Hilfe der Sprache gebunden. Die Sprache erlaubt es, das Gemeinsame von Menschen, das Verbindende zwischen ihnen herauszufinden und auszudrücken. Jeder Mensch kann potentiell mit jedem anderen Menschen auf der Erde wenigstens in einem gewissen Bereich mit Hilfe der Sprache eine Verbindung aufnehmen. Die Sprache erlaubt es also, dem Allgemeinen einen Ausdruck zu verschaffen. Zugleich kann man mit Hilfe der Sprache subjektive Besonderheiten, also individuelle Interessen, Wünsche oder Gefühle ausdrücken. Die sozialistische Theorie verkennt zumeist die zentrale Bedeutung der Sprache und des gesprochenen Wortes für das soziale Wesen des Menschen. Für sie ist der Mensch nicht primär ein sprechendes sondern ein arbeitendes, ein produzierendes Wesen, ein Homo Faber. Dieses Defizit rächt sich. Das Scheitern des osteuropäischen Sozialismus hatte nicht zuletzt mit einem Mangel an kritischer, diskutierender Öffentlichkeit zu tun. Die Partei, der Staat verordnete dort Sprachregelungen und sprachliche Tabus. Die Sprache diente damit noch kaum einer Aufklärung, die die Lösung sozialer Probleme möglich macht, sie erlangte vielmehr eine Rolle in von oben verordneten quasi religiösen Anpassungsritualen. Die "Rationalisierungspotentiale", die im kommunikativen Handeln liegen, können so nicht genutzt werden. Eine moderne Industriegesellschaft kann ohne entwickelte Formen öffentlicher sprachlicher Verständigung nicht funktionieren.

Michel Foucault hat für das kritische Denken aufgezeigt, wie eng soziale Macht und die Strukturen "diskursiver Formationen" miteinander verbunden sind. Auf der psychologischen Ebene kann die Psychoanalyse auf die zentrale Bedeutung der Sprache und des Sprechens hinweisen. Sie hat mit ihrer therapeutischen Praxis aufgezeigt, daß eine bestimmte Art des Sprechens aus inneren Gefängnissen befreien kann. Das Reden kann, wie ihre Praxis zeigt, Körpererfahrungen und Gefühle verändern. Über was man nicht reden kann, kann auch nicht gelebt werden; was Menschen nicht aussprechen können, kann sie zerstören. Die überkommene sozialistische Theorie weiß davon kaum etwas. Die Geringschätzung der Sprache in der traditionellen sozialistischen Theorie ist Ausdruck einer unkritischen Fixierung an eine kapitalistische Arbeitsgesellschaft. In diesem Defizit drückt sich auch die Tatsache aus, daß die traditionelle sozialistische Theorie die Theorie der Befreiung für die körperlich arbeitenden Industrie- und Landarbeiter sein sollte. Mit dem Verschwinden der traditionellen Arbeiterklasse verschwinden auch die traditionellen Formen körperlicher Arbeit. Immer mehr gesellschaftliche Arbeit fließt in Bereiche ein, wo sie weniger mit der Herstellung handfester Produkte als mit der Herstellung von Information bzw. mit kommunikativem Handeln zu tun hat. Im Bereich der Datenverarbeitung, der Werbung, im Bereich der Massenmedien oder der psychologischen Therapie verdienen immer mehr Menschen Geld durch die Produktion von Zeichen, die soziale Beziehungen herstellen sollen. Das schlägt sich auch im Bereich der Wissenschaft nieder. Das Zeichen, die Information, die Kommunikation werden dort immer mehr zum Gegenstand des theoretischen Denkens. Dadurch können die Möglichkeiten, die in der Sprache liegen, neu und anders bewertet werden. Theoretiker wie Lacan, Foucault oder Habermas haben dieser Wiederkehr des "Wortes" im theoretischen Denken den Weg geebnet.

Unter den bestehenden politischen und ökonomischen Verhältnissen dienen die neu entstehenden kommunikativen Möglichkeiten vor allem der instrumentellen Vernunft der Herrschenden oder der Verwandlung der Aufklärung in kommerzialisierte Magie und Realitätsflucht. Eine befreiende Politik hätte heute nicht zuletzt in der Sprache und im kommunikativen Handeln enthaltene Möglichkeiten einer sie deformierenden Vermarktung zu entziehen und für soziale Emanzipationsbewegungen freizusetzen. Politik hat heute nicht zuletzt mit dem Kampf um die gesellschaftliche Entwicklung von individuellen und kollektiven Ausdrucksmöglichkeiten zu tun. Sie muß mit dem Kampf um Räume des Sprechens verbunden sein, in denen man lernen kann, für Interessen, Bedürfnisse und Wünsche einen angemessenen und wirkungsmächtigen Ausdruck zu finden.

Über die Notwendigkeit des Interesses am Allgemeinen

Mit dem bisher formulierten habe ich "Werbung" für die Beachtung von Besonderheiten und Differenzen gemacht. Eine derartige Einstellung ist für ein gegenwärtiges linkes Bewußtsein typisch, das aber durchaus auch problematische Züge trägt. Der Verdacht ist oft kaum von der Hand zu weisen, daß hinter der Verteidigung von Differenzen sich das Pochen auf fragwürdige soziale Privilegien verbirgt, die mit diesen verbunden sind. Das "postmoderne" Denken polemisiert gegen objektiv gültige Allgemeinbegriffe, es tendiert damit zur theoretischen Abschaffung von vorhandenem Allgemeinen. Das heutige Normalbewußtsein ist von einem kollektivierten Narzißmus geprägt, der es mit sich bringt, daß alle bloß noch etwas Besonderes sein wollen, womit nicht zuletzt erreicht wird, daß alle immer weniger etwas Besonderes sind.

Wo Menschen einem bornierten Individualismus huldigen, organisieren sie nicht nur die Verkümmerungen des Sozialen, sondern auch die Verkümmerung ihrer Subjektivität. Der Reichtum der Subjektivität der Menschen ist nämlich vom Reichtum ihrer sozialen Beziehungen zur Welt abhängig. Ich will deshalb zum Schluß wenigstens ansatzweise darauf hinweisen, wie wichtig das Interesse am Allgemeinen, für das theoretische Denken und die politische Praxis sein sollte.

Es spricht einiges dafür, daß die Menschheit zugrunde gehen wird, wenn die Menschen es nicht lernen, ihre Probleme mehr und besser gemeinsam mit anderen zu lösen. Das Allgemeine des Menschen, das ihn zum sozialen Wesen macht, ist in der menschlichen Sprachlichkeit und der Fähigkeit zum gemeinsamen Arbeiten gewissermaßen anthropologisch verankert. In der Geschichte realisiert sich das menschlich Allgemeine als Produkt ökonomischer und politischer Entwicklungen.

Durch die Zwänge des Weltmarktes hat der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte eine Weltgesellschaft hervorgebracht. Globale politische Abhängigkeiten beeinflussen heute die Lebensmöglichkeiten aller Menschen. Alle Menschen sind gemeinsam, wenn auch auf unterschiedliche Art, von ökologischen Katastrophenzusammenhängen bedroht. Die Existenz von Atomwaffen macht alle Menschen zu potentiellen Opfern von militärischer Gewalt. Daß existierende gemeinsame Menschheitsinteressen vor allem durch soziale Zwänge und Vernichtungsdrohungen zustande kommen, verleiht dem vorhandenen allgemeinen Menschheitszusammenhang bedrohliche Züge. Die Menschen sind, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art, in ein gemeinsames Boot gezwungen worden, indem sie zumeist gemeinsam ihre Ohnmacht gegenüber dem erfahren, was sie in dieses Boot gezwungen hat. Die Weltgesellschaft hat Züge einer Höllenmaschine, die allen Menschen mit der Vernichtung droht. Eine Menschheit, die nach den Versprechen der bürgerlichen Aufklärung durch die freie Assoziation aller Menschen zustande kommen sollte, realisiert sich als bedrohlicher Zwangszusammenhang, in den alle Menschen verstrickt sind. Statt universalisierter Freiheit und Solidarität, die allen Menschen erlaubt auf vielfältige Art Beziehung zueinander aufzunehmen, stiften zumeist ökonomische und politische Abhängigkeiten ein umfassendes Soziales, das die Einzelnen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung erfahren müssen.

Marx ging davon aus, daß ein vom Kapitalverhältnis gestifteter universeller Zusammenhang durch die internationale Arbeiterbewegung in eine "freie Assoziation" verwandelt werden kann. Ihm zufolge enthält der von der Ökonomie gestiftete repressive gesellschaftliche Zusammenhang Potentiale, deren Freisetzung eine andere Form der Vergesellschaftung möglich macht. Es stellt sich heute die Frage, ob in einem verwandten Interpretationshorizont neue Perspektiven für das Soziale gewonnen werden können. Die kapitalistische Ökonomie stiftet einen gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem die Menschen in ihrer Vereinigung zugleich als Privateigentümer und Konkurrenten voneinander isoliert sind. Diese Form des Gesellschaftlichen zerstört also zugleich die Gesellschaftlichkeit; sie zerstört, indem sie die Menschen miteinander verbindet, zugleich ihr soziales Wesen.

Ein hochentwickeltes arbeitsteiliges System, eine hochentwickelte Vergesellschaftung aller Lebensbereiche, die alle menschlichen Regungen durchzieht, wird durch das Geld gestiftet, das die Menschen zugleich verbindet und voneinander isoliert. In diesem System umfassender fragwürdiger Abhängigkeiten sah Marx Potentiale, die Besseres enthalten, die auf eine Gesellschaft drängen, die mehr mit Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu tun hat. Kann das heute noch gelten? Läßt die Entwicklung der Produktivkräfte, die der Kapitalismus bewerkstelligt hat, nicht auch eine andere Produktion des gesellschaftlichen Reichtums und dessen gerechtere Verteilung zu? Stiften umfassende ökonomische Zusammenhänge nicht auch gemeinsame Interessen von Klassen und Gruppen, die die Basis von mehr Solidarität abgeben können? Verlangt ein hochentwickeltes arbeitsteiliges System nicht auch die Entwicklung von Rücksichtnahme und Verläßlichkeit, aus denen unter anderen sozialen Konstellationen auch mehr Menschlichkeit resultieren kann? Fördert die universelle ökonomische und politische Verflechtung nicht auch kommunikative Fähigkeiten, die vielleicht auch gegen die bestehenden Verhältnisse gerichtet werden können? Entwickeln sich im Bestehenden Ansätze von Gesellschaftlichem, die sich gegen bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse richten könnten und die, von ihnen befreit, ein reicheres Soziales stiften könnten? Eine kritische Gesellschaftstheorie in praktischer Absicht hat darüber nachzudenken. Sie kann sich um Utopien bemühen, die mit der nüchternen Analyse des Bestehenden verknüpft sind.

Eine andere Form der Vergesellschaftung hat der ursprünglichen marxistischen Theorie zufolge nicht nur die Überwindung des Kapitalismus zur Voraussetzung sondern - ganz im Gegensatz zur untergegangenen osteuropäischen Realität - auch eine Entstaatlichung der Gesellschaft. Die Vergesellschaftung durch den Kapitalismus zeigt die Tendenz zur Atomisierung der Gesellschaft, zur Zerstörung des Sozialen, zur Anarchie der Warenproduktion, zur Verelendung vieler Menschen. Um die zerstörerischen Potentiale dieser ökonomischen Struktur in Grenzen zu halten, ist ein Staat notwendig, der allgemeine Interessen sichert. Ob der Staat das Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft oder primär das Interesse am Funktionieren einer Gesamtökonomie sichert, die mit Klassenprivilegien verknüpft ist, soll hier nicht diskutiert werden. Auf jeden Fall kann der Staat gegen bornierte private Interessen als Vertreter eines bedrohten Allgemeinen wirksam werden. Damit findet eine Aufspaltung der Menschen und der sozialen Realität statt. Die Menschen sind einerseits Mitglieder einer bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind in Familie und Beruf Privatleute: sie sind Individuen, die dort ihre bornierten Interessen verfolgen.

Andererseits sind sie Staatsbürger, die als Mitglieder eines politischen Gemeinwesens allgemeinen Interessen verpflichtet sind. Nach Marx sind sie sowohl "egoistische, unabhängige Individuen" als auch "moralische Person". (10) Jenseits der Sphäre des privaten Interesses können sie sich nach Feierabend "der Idee widmen" und sich für gemeinsame soziale Interessen einsetzen. Es kommt also, um die zerstörerischen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft in Grenzen zu halten, zu einer Verselbständigung des Politischen in Form des Staates. Nach Marx soll diese Verselbständigung des Politischen in Gestalt des Staates zurückgenommen werden, weil ihm zufolge auch der bürgerlich-demokratische Staat keine wirkliche Vergesellschaftung stiften kann. Die Menschen sollen sich nicht nur nach Feierabend, sondern auch im Alltag als soziale Wesen erfahren können. Sie sollen in ihrer Alltagspraxis ihre individuelle Besonderheit mit ihrem "Gattungswesen" so verbinden können, daß sie einen Reichtum von sozialen Beziehungen und Verhältnissen in solidarischer Verbindung mit anderen erfahren können, der sie als Subjekte bereichert. In Marx' Text zur Judenfrage heißt es:

"Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine "forces propres" als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher auch die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht." (11)

Marx tendiert sicherlich dazu, den historischen Fortschritt, der in der bürgerlich-demokratischen Organisation des Politischen besteht, zu gering zu veranschlagen. Die Erfahrungen des Faschismus und des Stalinismus zwingen zu einer neuen und positiveren Einschätzungen der Bedeutsamkeit etwa des Rechtsstaates. Trotzdem können nur andere Formen der Organisation des Politischen, des Sozialen den Menschen in einem weiteren Maßstab die Erfahrung erlauben, daß es keineswegs vorwiegend problematische Seiten haben muß, Teil eines Allgemeinen zu sein.

Was hier zur Notwendigkeit der Rettung des Interesses am Allgemeinen formuliert wurde klingt sehr abstrakt, scheinbar weltfremd. Ich bin heute konservativer als vor 25 Jahren. Staatliche Gebilde, Märkte oder Bürokratien sind wohl in modernen Industriegesellschaften, nachdem was wir uns heute vorstellen können, ohne zerstörerische Konsequenzen kaum völlig abzuschaffen. Hochindustrialisierten Gesellschaften brauchen relativ verfestigte soziale Institutionen und eine Ausdifferenzierung sozialer Teilbereiche. Das heißt in anderen Worten, daß Entfremdung nie völlig aufhebbar ist, es gilt "nur", sie soweit als irgend möglich zu reduzieren. Der Einfluß der normierenden sozialen Macht des Geldes oder des Staates sollte soweit als möglich zurückgedrängt werden, um Raum für eine größere Vielfalt von Formen des Politischen zuzulassen. Nur ein reicheres Soziales, in dem das Allgemeine sich nicht nur auf homogene Art, sondern in seiner Differenz und unter produktiver Austragung von Konflikten entfalten kann, erlaubt den Menschen ein positiveres Verhältnis zum Sozialen. Nur wenn das Gesellschaftliche dadurch aufgeladen wird, daß die Einzelnen stärker sich mit ihm auch in ihrer alltäglichen Praxis identitfizieren können, können vielleicht die sozialen Energien freigesetzt werden, die verhindern, daß die Gesellschaft zunehmend in Barbarei versinkt.

Der Sozialismus muß mit dem Ende des osteuropäischen Staatssozialismus keineswegs an sein Ende gelangt sein. Wenn die Menschheit noch eine Zukunft haben will, muß sie vieles von dem, was er in sich getragen hat, in neue Formen hinüberretten. Es ist freilich nicht unwahrscheinlich, daß die sozialen Bewegungen, die sein Erbe weitertragen, nicht mehr mit seinem Namen verbunden sind, weil dieser Name mit einer an ihr Ende gelangten traditionellen Arbeiterbewegung verknüpft ist und weil die Geschichte ihn mit allzu viel zerstörerischer Gewalt und menschliche Erniedrigung verknüpft hat.


Literaturliste

  1. Eine Ausnahme in der materialistischen Tradition bilden die theoretischen Arbeiten HORKHEIMERs und ADORNOs.
  2. J.J. ROUSSEAU: Staat und Gesellschaft. München 1959, S. 18f.
  3. S. FREUD: Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 457.
  4. ebd., S. 454.
  5. siehe hierzu G. VINNAI: Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft. Frankfurt/M. 1993, S. 190ff.
  6. S. FREUD: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, S. 95.
  7. ebd., S. 97.
  8. M. HORKHEIMER: Autorität und Familie in der Gegenwart. In: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt/M. 1967, S. 281.
  9. siehe hierzu VINNAI, a.a.O., S. 13ff.
  10. Karl MARX: Zur Judenfrage. In: Marx: Frühschriften. Hg. S. Landshut. Stuttgart 195, S. 189.
  11. ebd.