Wider den
Drang zum Nationalen
Gekürzt
veröffentlicht in der "Frankfurter Rundschau", 23.04.1994
Seit der deutschen Wiedervereinigung leben mehr Deutsche in einem Staat, die
sich über vernünftige Formen des Zusammenlebens Gedanken machen müssen.
Dieses Nachdenken verlangt die Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sie
auf verwandte und unterschiedliche Art geprägt hat. Bei Nietzsche heißt es:
"Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich
kennenzulernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in
hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts, als das, war wir in
jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. (1) Unsere Geschichte hat
teilweise mit Traditionen zu tun, die sich als deutsch bezeichnen lassen.
Seit 200 Jahren ist sie mit der Idee des Nationalen verknüpft. Menschen sind
soziale Wesen, sie können nur als Mitglieder sozialer Gruppen existieren. Als
solche identifizieren sie sich bewußt und unbewußt mit diesen Gruppen, ihnen
verdanken sie ihre soziale Identität. Wer in einem deutschen Staat lebt, hat
notwendig positive und negative Identifikationen mit den Deutschen und ihrer
Geschichte, die diesem Staat angehören. Daraus schließen viele, daß wir
hierzulande endlich wieder eine "normale" Einstellung zum
Nationalen erlangen sollten, wie sie etwa Franzosen, Amerikanern oder Polen
eigentümlich sein soll. Mir scheint das nicht nur wegen der Besonderheiten
der deutschen Geschichte falsch zu sein, sondern auch wegen der Orientierung
an einer Normalität, die allzu viele problematische Züge trägt. Der folgende
Text, der eine Verknüpfung der Darstellung von persönlichen,
lebensgeschichtlichen Erfahrungen und sozialwissenschaftlichen Einsichten
versucht, möchte das aufzeigen.
I.
Vor einiger Zeit sah ich im Fernsehen eine Nachrichtensendung. Sie
informierte darüber, daß deutsche Staatsbürger, die darüber hinaus Menschen
sind, die sich mit besonderer Leidenschaft als Deutsche bezeichnen,
unmenschliche Gewalt gegen türkische Ausländer ausgeübt haben, die man nicht
mehr wirklich als Ausländer bezeichnen kann, weil sie schon seit Jahrzehnten
in Deutschland leben. Daneben enthielt diese Nachrichtensendung Hinweise auf
Befunde des "Waldschadensberichts". Dieser meldet extreme
Waldschäden in deutschen Wäldern, die den Biotop Wald in seiner Existenz
bedrohen. Die Deutschen sollen eine besondere Beziehung zum Wald haben. Elias
Cannetti schreibt in seinem Buch "Masse und Macht" über kollektive
Massensymbole: "Der Engländer sah sich gern auf dem Meer; der Deutsche
sah sich gern im Wald. In keinem modernen Land ist das Waldgefühl so lebendig
geblieben wie in Deutschland" (2) Worte wie Waldeinsamkeit oder
Waldeslust gibt es nur in der deutschen Sprache. Bei Eichendorff heißt es
sehr deutsch, auf fast religiöse Art:
"Oh Täler weit, oh Höhen,
Oh schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächtger Aufenthalt."
Der deutsche Wald hat nicht nur mit der deutschen Romantik zu tun, mit einer
traumatisierenden Industrialisierung, die zur Flucht in die Natur drängte.
Cannetti zufolge ist er insgeheim auch mit dem deutschen Heer verwandt.
"Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als
das Heer: es war der marschierende Wald. Das Rigide und Parallele der
aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und Zahl erfüllt das Herz der Deutschen
mit tiefer und geheimnisvoller Freude." (3) Der frühe Thomas Mann, der
sich noch nicht zum Demokraten gewandelt hatte, verband das deutsche Wesen
mit "machtgeschützter Innerlichkeit". Innen die Waldeinsamkeit, die
deutschen Mütter und die deutschen Dichter, außen das deutsche Heer, als
gepanzerter Wall, der dieses Innere gegen bedrohliche Fremde schützt.
Nach der Nachrichtensendung, die über deutsche Rechtsradikale und das
Waldsterben in Deutschland berichtete, war auf einem anderen Sender eine
Sendung mit viel Zuschauerresonanz zu sehen. In ihr stritten sich zwei
Parteien über die Frage: "Sollen wir stolz darauf sein, Deutsche zu
sein"? Die Mehrheit des Publikums im Fernsehstudio bejahte mit einer
streitenden Partei diese Frage, weil wir Deutsche doch wirtschaftlich etwas
geleistet hätten, weil wir hier eine Demokratie hätten und weil die meisten
Deutschen doch anständige Leute seien. Ein deutscher Sinti der Gegenpartei
fand diese Einstellung unsinnig, weil man vernünftigerweise doch nur auf das
stolz sein könne, was man selbst geleistet habe. Ein Mann aus dem Publikum
gab dem Sinti zu bedenken: Die Zigeuner könnten doch stolz auf die schöne
Musik sein, die sie machen. Der Sinti: Er spiele leider kein Instrument. Man
konnte merken, wie die Abneigung gegen ihn, die keineswegs nur mit seiner
Meinungsäußerung zu tun hatte, beim Publikum im Fernsehstudio spürbar
anwuchs. Nicht nur die Mehrheit im Fernsehstudio oder Anhänger der deutschen
Rechten, sondern auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft oder ein Beraterstab der IG Metall und viele andere, die sich
wohl eher der Linken zurechnen, wollen zu dieser Zeit endlich wieder stolz
darauf sein, Deutsche zu sein. Dies angeblich, um den Rechtsradikalen den
Boden zu entziehen.
Die Fernsehsendung mit denen, die stolz darauf sein wollen, Deutsche zu sein,
entlockte mir den spontanen Einfall: "Sind die verrückt geworden"!?
Als psychoanalytisch orientierter Wissenschaftler habe ich gelernt, meine
Einfälle ernst zu nehmen: Ich denke also darüber nach, was derartige
Einstellungen mit Verrücktheit zu tun haben. Bei psychisch schwer gestörten
Menschen lassen sich spezifische Beziehungen zu anderen Menschen, wie zur
Realität insgesamt ausmachen. Diese Beziehungen zeichnen sich, den Einsichten
der Psychoanalyse zufolge, beispielsweise durch sog. Spaltungsmechanismen
aus: die Realitätsbezüge werden dergestalt aufgespalten, daß Gutes und
Schlechtes, Liebenswertes und Hassenswertes, das in der Realität miteinander
verknüpft ist, willkürlich auseinandergerissen wird. Das bedeutet zum
Beispiel, daß andere Menschen entweder als großartig und liebenswert oder als
minderwertig und bedrohlich erfahren werden. Die Frau eines Mannes mit
derartigen Problematiken erscheint diesem je nach Situation entweder als
wunderbare Frau oder als absolutes Scheusal. Widersprüche, Mischungen,
Ambivalenzen darf es nicht geben, weil sie zu viel Unsicherheit und Angst
hervorrufen. Wer stolz darauf sein will, Deutscher zu sein, muß zu derartigen
Abspaltungen in der Lage sein, auch wenn sie oder er sonst ohne weitreichende
seelische Defekte geblieben sein mag. Man muß das Gute, das es in deutschen
Landen sicherlich auch gibt, willkürlich vom Schlechten abspalten, vom
Waldsterben zum Beispiel oder den gewalttätigen Deutschen, die man mit Hilfe
von Spaltungsmechanismen einfach nicht mehr zu den richtigen Deutschen rechnet.
(Ähnlich problematische Einstellungen zeigen übrigens auch diejenigen, die
alles Deutsche abstoßend finden, - außer an sich selbst und einigen wenigen
Freunden.) Es gibt in Deutschland sicherlich schöne Landschaften und
Menschen, mit liebenswerten Zügen, aber keineswegs nur, weil Deutsche in der
Vergangenheit zwei Weltkriege angezettelt haben und die Vernichtung von
Millionen Juden zu verantworten haben, sondern auch, weil es in der Gegenwart
unter Deutschen Millionen Alkoholiker, die Einsamkeit unzähliger Alter oder
das Elend alleinerziehender Mütter gibt, muß man ein merkwürdiges Verhältnis
zu dieser Realität haben, wenn man stolz darauf sein will, Deutscher zu sein.
Ein bei Anhängern des Nationalen sehr verbreitetes Verhältnis zur eigenen
Kultur, das durch Abspaltungen und Verleugnungen geprägt ist, sollte nicht
nur in Deutschland aufgrund besonderer historischer Erfahrungen Unbehagen
hervorrufen. Wollen die Amerikaner, die stolz darauf sind, Amerikaner zu
sein, nur auf demokratische amerikanische Traditionen stolz sein oder auch
auf die Ausrottung der Indianer oder die Verrohung in den Slums der
Großstädte? Darf der Türke, der stolz darauf ist, Türke zu sein, nur auf eine
beeindruckende kulturelle Tradition oder eine in der Türkei verbreitete Gastfreundschaft
stolz sein, oder soll sich sein Stolz auch auf die Ermordung unzähliger
Armenier unter Atatürk oder die Mißhandlung von Kurden in der Gegenwart
beziehen? Ist der Franzose, der stolz darauf ist, Franzose zu sein, nur auf
die Errungenschaften der französischen Revolution stolz oder auch auf die
Gewalt, die Franzosen Algeriern während des Kampfes um ihre Unabhängigkeit
angetan haben? Alle diese Formen des Stolzes können doch wohl nur dadurch
zustande kommen, daß sie auch bei denen, die nicht als psychiatrische Fälle
etikettiert werden können, mit "wahnhaften" Abspaltungen verknüpft
sind. Sigmund Freud forderte nach dem ersten Weltkrieg, daß wir als
aufgeklärte Menschen akzeptieren sollten: "daß wir von einer unendlichen
langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust im Blute
lag". (4) Wer stolz auf irgendeine nationale Tradition sein will, ist
demnach, ob gewollt oder ungewollt, immer auch stolz darauf, mit Gewalttätern
verwandt zu sein.
II.
In den vergangenen Monaten habe ich als Referent an vielen Diskussionen über
Ausländerfeindlichkeit teilgenommen. Wenn Ausländer sich an derartigen
Diskussionen beteiligt haben, habe ich häufig eine Feststellung gemacht, die
man mir hoffentlich nicht als Ausländerfeindlichkeit auslegen wird. Wenn
nicht Deutsche als Vertreter eines nationalen Kollektivs auftreten, fällt
das, was sie über "die Deutschen" sagen, meist so stereotyp und
klischeehaft aus, wie wenn Menschen, die sich mit Nachdruck als Deutsche
darstellen, über die Türken, die Russen oder die Amerikaner reden. Umgekehrt
gilt zugleich: Je mehr jemand als Individuum spricht, je weniger sie oder er
bloß als Repräsentant eines nationalen Kollektivs auftritt, desto
sachhaltiger werden üblicherweise bei Ausländern und Deutschen die
inhaltlichen Äußerungen. Vergleicht man zum Beispiel die typischen Äußerungen
von Türken, die stolz darauf sind, Türken zu sein mit Äußerungen von Türken,
die nicht stolz darauf sind, Türken zu sein, aber auch nicht wie die
Deutschen hier sein wollen, kann man das leicht feststellen. Die Grenzgänger,
denen es angeblich an einer notwendigen Verwurzelung in einer nationalen
Identität mangeln soll, sind üblicherweise zu sehr viel präziseren Aussagen
über die Beziehungen von Menschen in einer Kultur oder zwischen verschiedenen
Kulturen in der Lage. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß sich eine
gefestigte nationale Identität meist umgekehrt proportional zu einer
Ich-Autonomie verhält, die kritisches Denken als seine Basis benötigt.
III.
Während einer Auslandsreise wäre es mir in Argentinien, trotz meiner Skepsis
gegenüber dem Nationalen, fast gelungen, eine nationale Identität als etwas
Positives zu erfahren. In einem Urwaldgebiet Nordargentiniens ängstigten mich
einige mir sehr fremdartig erscheinende Menschen, die auf einem einsamen Pfad
in einiger Entfernung hinter mir hergingen - bis ich auf einen Menschen traf,
der mich auf deutsch anredete. Er sprach ein Deutsch mit pommerscher Färbung,
das aus einer Epoche stammte, die den Redenden einen viel langsameren
Sprechrhythmus als heute und rührend altmodische sprachliche Wendungen
erlaubt hat. Das miteinander Sprechen gab dem Gefühl Raum, als Deutscher in
der Fremde bei Deutschen zu Hause sein zu können. Der Kontakt mit deutschen
Auswanderern im fremden Argentinien brachte mich dazu, über ein
Forschungsprojekt nachzudenken, das sich mit dem Identitätswandel
verschiedener Gruppen von Deutschen auseinandersetzen sollte, die nach
Argentinien ausgewandert sind. Ich hätte gerne herausgefunden, wie linke oder
rechte Deutsche, wie deutsche Juden oder deutsche Nazis in Argentinien ihre
Vergangenheit untergebracht haben. Habe ich im fernen Argentinien meine
deutsche Identität gefunden? Auch die nationale Identität der Argentinier
schien mir einige Vorzüge zu bieten. Argentinier russischer, italienischer,
polnischer oder deutscher Abstammung schienen mir als Argentinier ganz gut
miteinander auszukommen. Andere Aspekte der nationalen Identität der
Argentinier haben freilich meine Versöhnung mit dem Nationalen verhindert.
Argentinische Landkarten bleiben meist weiß, wo man etwa chilenisches Gelände
erwartet. Das Territorium eines traditionellen nationalen
"Erbfeindes" soll wohl nicht besonders beachtet werden. Die
Militärs wären in Argentinien wahrscheinlich noch heute an der Macht, wenn
sie den Falkland-Krieg gewonnen hätten und damit für die Mehrheit der
Argentinier eine "nationale Schmach" getilgt hätten. Eine winzige
Inselgruppe im Atlantik, die kaum jemand in Argentinien für sein Überleben
braucht, weil ihre Beschaffenheit der des unendlich weiten, menschenleeren
Südens von Argentinien entspricht, kann nur in einer Kultur eine überragende
psychische Bedeutung erlangen, in der eine soziale Misere die nationale
Begeisterung als Symptom hervorbringt.
IV.
Mein Verhältnis zum Nationalen ist durch meine Lebensgeschichte bestimmt, die
in eine bestimmte Epoche der deutschen Geschichte eingelagert ist. Daß ich
lieber anderem als dem Nationalen meine Emotionen zuwende, ist eine
Konsequenz meiner Biographie. Mit Elias Cannetti habe ich darauf hingewiesen,
daß die deutsche Identität etwas mit dem deutschen Heer zu tun hat. Deutsche
Männlichkeit war traditionell mit dem Soldatischen verknüpft und das wurde
nicht nur von Männern als positiv erfahren. Bis zum Dritten Reich war es für
viele junge deutsche Frauen, vor allem aus den mittleren und höheren
Schichten, ein Wunschtraum, einen Offizier als Mann zu ergattern. Auch meine
Identität und meine Männlichkeit sind mit dem deutschen Heer verknüpft. Wer,
wie ich, 1940 geboren wurde, dessen frühe Kindheit, in der sich viel
Prägendes in die Psyche einschreibt, ist mit dem Kriege verknüpft. Die ersten
fünf Jahre meines Lebens war Kriegszeit, danach war Nachkriegszeit im
Schatten eines Krieges, der als verloren erfahren wurde. Eine meiner
frühesten Erinnerungen bezieht sich auf das Ausschneiden von Soldatenbildern
aus Zeitungen, die wir in Zigarrenschachteln anhäuften. Besonders beliebt
waren dabei Ritterkreuzträger, denen eine besondere Verehrung galt. Wir
spielten als kleine Jungen Soldaten, weil wir wie unsere Väter sein wollten,
die wir als Helden in der Fremde wähnten. Wir wollten tapfere Krieger sein,
um unsere Mütter gegen das Böse verteidigen zu können. Gegen Ende des Krieges
landeten die kleinen deutschen Soldaten in den Luftschutzkellern brennender
Häuser, Sirenen vor Luftangriffen verbreiteten bei ihnen eine entsetzliche
Angst. Die schlimmen Seiten des Militärischen wirkten auf uns Kinder auf
traumatische Art ein. Die Nachkriegszeit machte die Schuld von Eltern
sichtbar, mit denen wir uns stolz identifiziert hatten. Wer sich als Kind
notgedrungen auch mit Eltern identifizieren muß, die Schlimmes angerichtet
haben und dafür mit einer schmerzlichen militärischen Niederlage büßen
mußten, introjiziert mit ihnen notwendig bewußte oder unbewußte Formen des Selbsthasses,
die die Identitätsfindung schwierig gestalten.
Eine frühe, mit den militärischen gekoppelte deutsche Identität hielt sich
bei mir noch in der Nachkriegszeit. Als Erstklässler war ich mit einem Freund
darin einig, daß die Deutschen zwar zu Recht den Krieg verloren hätten, weil
sie Schlimmes verbrochen hätten, aber daß sie trotzdem die tapfersten
Soldaten der Welt seien. Danach bestimmte das Militärische eine deutsche
Identität mit umgekehrten Vorzeichen. In den fünfziger Jahren hatte ich
durchaus noch eine ausgeprägte deutsche Identität, aber sie war nun, wie die
meiner Eltern, aufgrund der Kriegserfahrungen pazifistisch und
sozialdemokratisch ausgerichtet. Einer breiten politischen Strömung
entsprechend, setzten damals viele auf ein im kalten Krieg neutrales, gutes,
friedfertiges Deutschland, in Kontrast zum vorherigen schlimmen,
militaristischen Deutschland. Der sozialdemokratische Parteivorsitzende
Schumacher beschimpfte in der Nachkriegszeit Adenauer als Kanzler der
Alliierten, weil dieser die deutsche Wiedervereinigung zugunsten der
Westintegration Deutschlands verraten habe. Die SPD war damals nicht nur
aufgrund der Kriegserfahrungen pazifistisch, sondern auch, weil sie der
Ansicht war, daß eine militärische Integration in ein westliches Bündnis die
Wiedervereinigung blockiere. Mein Wunsch, ein guter Deutscher zu sein,
brachte es mit sich, daß ich mich in den fünfziger Jahren für die
Wiedervereinigung engagierte. Einige Male bin ich zusammen mit anderen an die
Zonengrenze marschiert, um an die Deutschen drüben zu denken. Ich habe Kerzen
ins Fenster gestellt, die helfen sollten, das Brandenburger Tor zu öffnen.
Als Jugendlicher bin ich öfter in die DDR gereist, um den Kontakt zu den
anderen Deutschen zu halten.
Die starke emotionale Besetzung des Nationalen, das Bedürfnis eine nationale
Identität als Deutscher zu haben, zerfiel erst in den sechziger Jahren unter
dem Einfluß "wurzelloser Juden". Vor allem meine Lehrer von der
"Frankfurter Schule" waren daran beteiligt. Adorno, für den
zwischen Nationalismus und einem "gesunden" nationalen Empfinden
kein Unterschied auszumachen war, prägte ein Denken, das später unter dem
Einfluß der Studentenbewegung auf internationale Solidarität aus sein wollte.
An der Universität habe ich gelernt, daß nicht nur deutsche Juden, die keine
nationale Identität haben wollten, einen wesentlichen Beitrag zur deutschen
Kultur geleistet haben. Die meisten Menschen, die als "große
Deutsche" gelten, legten keineswegs besonderen Wert darauf, Deutsche zu
sein. Kant wollte dazu beitragen, Menschen zu autonomen Individuen und
zugleich zu "Weltbürgern" zu erziehen. Erziehung sollte für ihn
keineswegs in deutscher sondern immer in "weltbürgerlicher Absicht"
erfolgen. Sein berühmter "kategorischer Imperativ" gebietet, daß
die Maximen, die das eigene Handeln leiten, als Maximen für das Handeln aller
Menschen taugen sollen. Das eigene Denken und Tun soll sich also immer auf
alle Menschen beziehen und niemals bloß auf die Deutschen. Goethe wollte
"Weltbürger" sein; er wollte ein reiches Subjekt dadurch werden,
daß er auf seine besondere Art möglichst viel Welt ohne nationale
Begrenzungen in sich aufnahm. Dieses Ideal teilte er mit dem "großen
deutschen" Universitätsgründer Humboldt. Für diesen galt: "Einen
Menschen beurteilen, heißt nichts anderes, als fragen, welchen Inhalt er der
Form der Menschheit zu geben gewußt hat." (5) Für ihn war die Aufgabe
aller Bildung, "der Menschheit in unserer Person einen so großen Inhalt
wie möglich zu verschaffen". (6) Vom Deutschen als Bildungsziel ist dabei
kaum die Rede. Der "große deutsche" Komponist Beethoven wollte mit
seiner Musik nicht zuletzt den Idealen der französischen Revolution und der
bürgerlichen Aufklärung einen musikalischen Ausdruck verleihen. Seine Neunte
Sinfonie versucht im Schlußsatz die Darstellung der großen bürgerlichen
Menschheitsutopie: Alle Menschen sollen Brüder werden. (Daß dabei etwas mit
den Schwestern nicht stimmt, ist inzwischen oft bemerkt worden.) Am Schicksal
der Neunten Sinfonie lassen sich Paradoxien der Geschichte deutlich machen.
Im Dritten Reich wurde sie zum Geburtstag des Führers unter Leitung der
prominentesten deutschen Dirigenten aufgeführt. Nicht mehr alle Menschen
sollten Brüder werden, sondern nur, unter der Regie des Führers, alle
Deutschen, unter Ausschluß der Linken und der Juden. Heute hat es der
Schlußsatz der Neunten Sinfonie dazu gebracht, "Europahymne" zu
werden. Immer noch nicht alle Menschen, aber wenigstens alle Europäer sollen
jetzt im Interesse einer europäischen Großmachtpolitik Brüder werden. Diejenigen,
die seit der deutschen Wiedervereinigung eine deutsche Identität suchen, die
sich auf demokratische Bewegungen beziehen kann, die von Deutschen getragen
wurden, vergessen zumeist, daß diese Bewegungen niemals allein deutsche,
sondern immer internationale Bewegungen waren. Der europäischen Aufklärung,
die Arbeiterbewegung, die Studentenbewegung, die Frauenbewegung oder andere
Bewegungen, die die Demokratie vorangebracht haben, waren oder sind
internationale Bewegungen. Sie stehen, auch wenn sie sicherlich Ausprägungen
erhalten haben, die auch mit nationalen kulturellen Traditionen verknüpft
sind, für Weltbürgerlichkeit und internationale Solidarität. Ihre führenden
deutschen Vertreter waren kaum jemals stolz darauf, Deutsche zu sein.
V.
Warum war ich früher engagiert darauf aus, eine Identität als Deutscher zu
haben, warum schien es mir früher erstrebenswert, ein Nationalgefühl mit
anderen zu teilen? Heute fallen mir dafür einige Gründe ein: Als
verunsichertes, sozial entwurzeltes Arbeiterkind wollte ich mich durch die
Identifikation mit einem attraktiven nationalen Kollektiv aufwerten. Als
Jugendlicher hörte ich allzu gerne von Ausländern: "die Deutschen haben
zwar im Krieg Schlimmes angerichtet, aber sie sind trotzdem eine große
Kulturnation, mit ihrem Goethe und mit ihrem Beethoven". Der
Psychoanalyse verdanke ich die Einsicht, daß das Verhältnis zum Fremden
verschiedenster Art entscheidend vom Verhältnis zum anderen Geschlecht
abhängig ist. Daß mir die Annäherung ans fremde andere Geschlecht Schwierigkeiten
bereitete, übertrug sich wohl auf soziale Einstellungen, die aus Angst vor
dem Fremden in anderen Ländern und Kulturen das Eigene besonders hochhalten
wollten. Entscheidend war aber wohl, daß ich es schon als Jugendlicher nicht
gut fand, wenn eine Gesellschaft allein vom Geld und von politischer Macht
zusammengehalten wird. Ich wünschte soziale Zusammenhänge, die nicht allein
von wirtschaftlichen Interessen gestiftet werden. Das Nationale verkörperte
für mich ein Soziales, durch das eine über bornierte individuelle Interessen
hinausgehende Solidarität gestiftet wird. Ich habe gelernt, daß das Nationale
ein Phantasma ist, das kein Gesellschaftliches stiften kann, in dem die
Interessen, Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen auf vernünftige Art aufgehoben
werden können.
VI.
Nicht nur eine spezifisch deutsche Lebensgeschichte auch die theoretische
Vernunft kann lehren, daß die Orientierung am Nationalen schon immer
irrationale Züge trug und heute mehr denn je trägt. Die Idee des Nationalen
und das Konzept des Nationalstaates sind kaum mehr als 200 Jahre alt. Noch
1820 konstatierte der Philosoph Hegel: "Wenn man in den einzelnen
deutschen Ländern nachfragt, ob die Bürger und Bauern alle zu einem
Deutschland gehören wollen, so wird diese Frage von den meisten gar nicht
verstanden werden". (7) Man sah sich damals, etwa in der Differenz zu
Franzosen oder Engländern, als Deutscher, aber eine politische Bedeutung
hatte dies kaum. Zuerst war man Preuße, Bayer, Württemberger oder Sachse; der
Patriotismus war an die Fürsten der Territorialstaaten gebunden. Wenn
Schiller und Goethe sich in ihrem Briefwechsel über Schillers Vaterland
äußern, meinen sie damit Württemberg und keineswegs Deutschland. Goethe hat
als Sohn der freien Reichsstadt Frankfurt eine Vaterstadt aber kein
Vaterland. Die Idee des Nationalen gewinnt an Bedeutung, wenn ein Bürgertum
entsteht, das mit ihrer Hilfe seine sozialen Interessen durchsetzen will.
Diese zielen zunächst auf einen kulturell relativ homogenen Wirtschaftsraum,
mit einheitlicher Rechtsordnung, in dem sich ein nationaler Markt entfalten
kann. Im Zeitalter des Imperialismus der Kolonialmächte verbindet sich das
Interesse am Nationalen mit der Konkurrenz von im nationalstaatlichen Rahmen
organisierten Ökonomien auf dem Weltmarkt. Es assoziiert sich mit dem Kampf
um Weltmachtpositionen zur Ausbeutung von Kolonien. Deren Bevölkerungen
müssen als kulturell minderwertig erscheinen, damit eine englische,
französische oder deutsche "Mission" an ihnen vollzogen werden
kann. Später verschafft sich die Idee des Nationalen im Widerstand der
Kolonisierten gegen die koloniale Abhängigkeit Geltung. Seit der Kapitalismus
den nationalstaatlichen Rahmen gesprengt hat, seit der Markt von
multinationalen Konzernen beherrscht wird und wirtschaftliche Interessen
jenseits des Nationalstaates, etwa in der EG, politisch organisiert werden,
verliert das Nationale seine ökonomische Basis. Wir leben heute in einer
durch den Weltmarkt gestifteten Weltkultur, die zwar auch nationale
Traditionsbestände verwertet, aber im Wesentlichen international organisiert
ist. Die Ökonomie, die Wissenschaft, die Technik, die Mode, die Musik, der
Sport sind heute tendenziell international. Man kann die Dominanz des
Internationalen selbst bei denen wahrnehmen, die sich besonders national und
deutsch geben wollen. Rechtsradikale Skinheads orientieren sich in ihrem
Outfit an einer englischen Unterschichtenkultur, sie tragen Jeans, die
ursprünglich aus den USA stammten, prügeln mit amerikanischen
Baseballschlägern, ihre Glatzen gleichen denen von amerikanischen
Marinesoldaten, sie hören Musik, die sich an angelsächsischen Vorbildern
orientiert. Die rechtsradikale Subkultur gehorcht also bewußtlos kulturellen
Trends, die stark an einer international dominierenden angelsächsischen Kultur
orientiert sind.
Es ist vernünftig, wenn demokratische Elemente nationaler politischer
Traditionen heute dergestalt zur Geltung kommen, daß sie bereichernd in
internationalen Tendenzen aufgehoben werden. Bei nationalen deutschen
Traditionen ist das besonders schwer. Das Nationale verbindet sich in
Frankreich mit der französischen Revolution: der "dritte Stand"
konstituierte sich hier als Nation gegen den Adel, der als vaterlandslos
gilt, weil er international "versippt" ist. In den USA ist das
Nationale mit dem Unabhängigkeitskrieg verknüpft, also mit der Aufhebung des
Kolonialstatus, der zur ersten bürgerlich demokratischen Verfassung führte.
In Deutschland hingegen hat die nationale Bewegung ihren Ursprung vor allem
im Kampf gegen die napoleonische Herrschaft, kaum aber im Kampf gegen den
Absolutismus der deutschen Territorialstaaten. Die Fürsten und ihre Heere
brauchte man im Kampf gegen die Franzosen. So nahm eine spezifisch deutsche
Synthese von Nationalismus und Untertanengeist ihren Anfang, die später noch
durch die nationale Vereinigung von oben verfestigt wird. Die nationale
politische Tradition in Deutschland taugt kaum für die Bereicherung einer
weltweiten demokratischen Kultur. Demokratische Elemente lassen sich in der
deutschen Geschichte eher in regionalen Traditionen ausfindig machen, zum
Beispiel in Baden oder im Rheinland oder in der Teilhabe an internationalen
Bewegungen, etwa der internationalen Arbeiterbewegung.
VII.
Woraus zieht ein historisch weitgehend überholtes nationales Ideal seine
Kraft? Sigmund Freud hat sichtbar gemacht, daß die Psyche der Menschen so an
die Vergangenheit gefesselt ist, daß sie sich kaum auf der Höhe der Gegenwart
halten kann. Frühere Fixierungen und aktuelle Belastungen, die zur Flucht vor
der Gegenwart drängen, begünstigen kollektive Regressionen, die sich mit dem
Nationalen verbinden. Diese rückwärtsgewandten Tendenzen werden durch
Defizite in der Verfaßtheit des Gesellschaftlichen begünstigt.
Die westliche Form der Vergesellschaftung, die vor allem der Markt stiftet,
macht die Menschen in einer arbeitsteiligen Ökonomie sehr stark voneinander
abhängig - sie isoliert sie aber zugleich als Konkurrenten und Eigentümer,
die ihre privaten Interessen vertreten, tendenziell voneinander. Das
Gesellschaftliche, das die Wirtschaft stiftet, isoliert die Menschen immer
auch voneinander. Diese Art der Vergesellschaftung begünstigt eine enorme
gesellschaftliche Dynamik und zwingt die Menschen, vielfältige subjektive
Möglichkeiten zu entwickeln, zugleich läßt sie aber das soziale Wesen der
Menschen allzuleicht verkümmern. Gegen die Zerstörung des Sozialen in der
Konkurrenzgesellschaft haben seit 200 Jahren vor allem zwei Bewegungen Front
gemacht, die nationalistische und sozialistische, die auch fragwürdige
Bindungen miteinander eingegangen sind. Das sozialistische Projekt zielte
ursprünglich darauf, eine solidarische Gesellschaft hervorzubringen, in der
die Entwicklung des Sozialen möglichst mit der Entwicklung der Einzelnen
verbunden sein sollte. Durch die Niederlagen und Perversionen des Sozialismus
hat der Nationalismus stets an Einfluß gewonnen. Besonders seit die
sozialistische Bewegung mit dem Ende des "realexistierenden
Sozialismus" an ein vorläufiges Ende gelangt zu sein scheint, hat das
Nationale wieder Konjunktur. Solange keine demokratischen politischen
Bewegungen geschichtsmächtig werden, die auf mehr Solidarität setzen und aus
den Fehlern des Sozialismus gelernt haben, wird sich daran kaum etwas ändern.
Eine verstärkte Tendenz zum Nationalen ist in Deutschland und anderswo
Ausdruck eines Wechsels im intellektuellen Klima. Das kritische linke,
sozialwissenschaftlich orientierte Denken hat entscheidend an Einfluß
verloren. In den vergangenen Jahrzehnten vertraten viele Intellektuelle die
Position, daß die Demokratisierung der Gesellschaft vor allem eine vor uns
liegende Aufgabe sei. Heute verteidigen dieselben Intellektuellen die
Demokratie in Gestalt des Bestehenden. Dabei zeigen die demokratischen
Organisationsformen des Politischen in unserer Gesellschaft erschreckende
Zerfallstendenzen, die totalitäre Gegenkräfte begünstigen. Das verbreitete
Schimpfen über "die Politiker" verdeckt eine tiefe Krise der
bisherigen Art, Politik zu machen. Es spricht manches dafür, daß die
vorhandenen politischen Strukturen es nicht erlaubten, die notwendigen
intellektuellen Potenzen und sozialen Prozesse zur Lösung den anstehenden
sozialen Probleme freizusetzen. Von den späten 60er Jahren bis in die 80er
Jahre gaben sich dominierende Intellektuelle antikapitalistisch. Als
Voraussetzung einer wirklichen Demokratie galt ihnen eine Demokratisierung
der Wirtschaft, die mehr Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit zuläßt.
Heute bemüht man sich darum, ja zu einer Marktwirtschaft zu sagen, die
durchaus immer noch Kritik nötig hat. Auch diejenigen, die sie für die beste
aller möglichen Wirtschaftsformen halten, sollten heute ihre gründliche
Kritik fordern, um notwendige gesellschaftliche Reformmaßnahmen in Gang zu
setzen. Politisches Handeln ist heute in einem Ausmaß ökonomischen Zwängen
verfallen, das seine Gestaltungsspielräume extrem schrumpfen läßt. Der
Bereich der Kultur wird immer mehr zum Anhängsel an die Firmenwerbung, was
seine kritische Substanz aushöhlt: Die bürgerliche Gesellschaft zeigt hier
die Tendenz in eine Art Industriefeudalismus zurückzufallen. In den Zentren
des Kapitalismus gibt es neue Formen der Armut in einer
"Zweidrittelgesellschaft". Niemand kann heute mit Sicherheit
erfolgversprechende Rezepte zur Überwindung einer zunehmenden
Massenarbeitslosigkeit anbieten. Eine fatale Gleichsetzung von "Freier
Marktwirtschaft" und Demokratie, die das öffentliche Bewußtsein
beherrscht, sorgt dafür, daß durch Krisen des Kapitalismus nahezu automatisch
totalitäre Bewegungen hervorgebracht werden.
Verglichen mit dem, was heute im Weltmaßstab üblich ist, hat die
bundesrepublikanische Demokratie sicherlich ihre positiven Seiten; die
demokratischen sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte haben durchaus
ihre Wirkungen hinterlassen. Trotzdem dürfte die bewusste Identifikation mit
der hier herrschenden oft erbarmungslosen Konkurrenzgesellschaft oder einem
als anonym erfahrbaren bürokratischen Verwaltungsstaat vielen schwerfallen.
Das Bestehende wird bejaht, nicht unbedingt, weil es besondere Sympathien auf
sich zieht, sondern weil keine besseren Alternativen vorhanden scheinen. Das
scheinbar unausweichliche Arrangement mit bestehenden sozialen Mächten kann
dadurch erleichtert werden, daß es als Identifikation mit einer nationalen
Kultur interpretiert wird. Die Identifikation mit einem emotional aufladbaren
nationalen Phantasma verschafft mehr psychischen Gewinn, als die
Identifikation mit den realen gesellschaftlichen Mächten, die den Alltag
bestimmen. Das nationale Phantasma verspricht mehr soziale Wärme und sozialen
Zusammenhalt, ohne daß man am Bestehenden etwas ändern muß, ohne daß man sich
vom Kampf um eine bessere Gesellschaft überfordert fühlen muß.
Der Nationalismus erlaubt die Flucht vor bedrohlichen sozialen Realitäten
durch eine unbewußte Regression zu infantilen familiären Beziehungserfahrungen.
Daß Menschen zu sozialen Wesen werden, daß sie kultur- und politikfähig
werden, erfordert die Ablösung von frühen Bindungen an die Herkunftsfamilie.
Wo diese mißlingt, kann es auf der politischen Ebene zum Nationalismus
kommen, der unbewußt ein politisches Gemeinwesen mit einer Familie
gleichsetzt und damit zugleich diejenigen auszugrenzen bestrebt ist, die
nicht als Verwandte "zu uns" gehören. Schon in den 30er Jahren hat
Wilhelm Reich in seiner "Massenpsychologie des Faschismus"
aufgezeigt, daß Nationalismus mit ungelösten infantilen Bindungen verknüpft
ist. "Die Vorstellungen von Heimat und Nation sind in ihrem
subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die
Mutter ist die Heimat des Kindes, wie die Familie seine Nation im kleinen
ist", heißt es dort. Das simplifizierende nationalistische Weltbild will
die Komplexität ökonomischer und politischer Prozesse nicht zur Kenntnis
nehmen. Es lädt stattdessen die Beziehungen zur sozialen Realität unbewußt
mit familiären Leidenschaften aus der Kindheit auf, die kaum eine rationale
Bearbeitung anstehender sozialer Probleme zulassen. Infantile soziale
Bindungen und die ihnen entsprechende Realitätsbezüge, die das Nationale
begünstigen, können da nicht überwunden werden, wo die Gesellschaft ihren
Mitgliedern ein mündiges Erwachsensein verwehrt. Menschen bleiben vor allem
da an sie fixiert, wo es ihnen verwehrt ist, ihr Schicksal selbst zu
gestalten, wo sie stattdessen zur Gehorsamsbereitschaft und zu
Bettelhaltungen gegenüber politischen und ökonomischen Mächten verurteilt
sind. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche von der
unpersönlichen Macht des Geldes regiert werden und sich Menschen immer mehr
von bürokratisch strukturierten politischen Großorganisationen anonym
verwaltet fühlen, neigen Menschen dazu, seelischen Halt im Nationalen zu
suchen, das Gemeinschaftsgefühl und Wertbewußtsein gegenüber der
gesellschaftlichen Kälte und Bedeutungslosigkeit verspricht. Wenn Demokratie
bloß als Veranstaltung von Politikern erfahren wird, wenn sie einem
unpersönlichen Verwaltungsstaat zugerechnet wird oder nur mit Wahlprozeduren
gleichgesetzt wird, bei denen die eigene Stimme gegenüber unzähligen anderen
kaum etwas gilt, ist es schwer, die Demokratie emotional zu besetzen. Die emotionalen
Bedürfnisse, die dem Sozialen gelten, landen dann leicht bei nationalen
Phantasmen, die mehr emotionale Aufladung zulassen. Die Überwindung von
nationalen Fiktionen kann nur durch eine Demokratisierung der Gesellschaft
zustande gebracht werden, die reichere soziale Beziehungen und Verhältnisse
stiftet, die infantilisierenden Mächten die Basis entziehen.
VIII.
Aus der Idee der Nation läßt sich kein anderes Verhältnis zur Natur ableiten,
das dieser und den Menschen eher gerecht wird. Eine menschenfreundlichere
Organisation der Ökonomie, ein freierer Umgang der Geschlechter, eine
notwendige Bildungsreform oder eine umweltschonendere Organisation des
Verkehrs können in der bestehenden Weltgesellschaft kaum sinnvoll als
nationales Problem behandelt werden. Das Bedürfnis nach emotional
aufgeladenen nationalen Identitäten dient hier eher der Flucht vor der
Bearbeitung derartiger Probleme. Wir sind als Deutsche sicherlich durch eine
deutsche Geschichte geprägt. Sowie man aber versucht, aus dieser Geschichte
positive Bestimmungen für ein deutsches Wesen abzuleiten, kann das nur zu
problematischen Konsequenzen führen. Wir können aus der deutschen Geschichte
lernen, wie problematisch es ist, eine soziale Identität haben zu wollen, die
vor allem um das Nationale zentriert ist. Unsere soziale Identität, die
sicherlich auch nationale Elemente enthält, wird durch unsere
Geschlechterrolle, unsere Familienbindungen, unseren Beruf, unsere
politischen Orientierungen und vieles andere bestimmt. Wenn das nationale Element
einer sozialen Identität eine übergroße emotionale Aufladung erfährt,
verweist das auf krisenhafte Potentiale der anderen Elemente. Es dient häufig
dazu, Lücken in einem gestörten seelischen Haushalt zu füllen. Wir brauchen
eine nationale Identität allenfalls als zu überwindende Durchgangsstufe für
ein reiferes soziales Bewußtsein. Vielleicht ist die Identifikation mit
nationalen Kollektiven unvermeidbar, solange es Nationalstaaten gibt. Aber
wir sollten als erwachsene Menschen immer daran arbeiten, solche
Beschränkungen zu überwinden, die einen offenen Zugang zur Welt hemmen. Unser
Ziel sollte es nicht sein, mit Hilfe einer klaren nationalen Identität
eindeutiger zu bestimmen, wer wir sind. Es ist viel wichtiger, daß wir den
Mut aufbringen, uns fremd zu werden, um uns dadurch ändern zu können. Wir
sollten versuchen, ohne falsche soziale Verwurzelungen zu leben und zu
akzeptieren, daß in der bestehenden Welt niemand wirklich zu Hause sein kann,
daß jeder in ihr mehr oder weniger Fremder sein muß. Nur dadurch können wir
wahrscheinlich einen Beitrag dazu leisten, daß diese Welt etwas heimatlicher
wird.
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Anmerkungen
1) F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band 223
2) E. Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M. 1980, S. 190
3) ebd.
4) S. Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Freud Studienausgabe IX.
Frankfurt/M. 1974, S. 56
5) W. von Humboldt: Über den Geist der Menschheit. 1804
6) W. von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. 1793
7) G.F.W. Hegel: Philosophie des Rechts. 1819, 1820. Frankfurt/M. 1983, S.
230
8) W. Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt/M. 1972, S. 103
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